W.I. Lenin

 

Was tun?

 

I
Dogmatismus und „Freiheit der Kritik“

 

b) Die neuen Verteidiger der „Freiheit der Kritik“

Eben diese Losung („Freiheit der Kritik“) wird in letzter Zeit vorn Rabotscheje Delo (Nr.10), dem Organ des „Auslandsbundes russischer Sozialdemokraten“ [6] feierlich verkündet, und zwar nicht als theoretisches Postulat, sondern als politische Forderung, als Antwort auf die Frage: „Ist die Vereinigung der im Ausland wirkenden sozialdemokratischen Organisationen möglich?“ – „Für eine dauerhafte Vereinigung ist Freiheit der Kritik notwendig“ (S.36).

Aus dieser Erklärung ergeben sich zwei ganz bestimmte Schlußfolgerungen: 1. Das Rabotscheje Delo verteidigt die opportunistische Richtung in der internationalen Sozialdemokratie überhaupt; 2. das Rabotscheje Delo fordert die Freiheit des Opportunismus in der russischen Sozialdemokratie. Prüfen wir diese Schlußfolgerungen.

Dem Rabotscheje Delo mißfällt „insbesondere“ „die Neigung der Iskra und der Sarja, einen Bruch zwischen dem Berg und der Gironde in der internationalen Sozialdemokratie zu prophezeien“. [B]

„Überhaupt scheinst uns“, schreibt B. Kritschewski, der Redakteur des Rabotscheje Delo, „das Gerede vom Berg und von der Gironde in den Reihen der Sozialdemokratie eine oberflächliche historische Analogie zu sein, die sich bei einem Marxisten sehr merkwürdig ausnimmt: der Berg und die Gironde repräsentierten nicht verschiedene Temperamente oder geistige Strömungen, wie es den ideologischen Geschichtsschreibern scheinen mag, sondern verschiedene Klassen oder Schichten – die mittlere Bourgeoisie auf der einen und das Kleinbürgertum mit dem Proletariat auf der andern Seite. In der modernen sozialistischen Bewegung gibt es aber keinen Konflikt der Klasseninteressen, sie steht restlos in allen„ (hervorgehoben von B. Kr.) „ihren Spielarten, die ausgemachtesten Bernsteinianer mit inbegriffen, auf dem Boden der Klasseninteressen des Proletariats, seines Klassenkampfes für die politische und wirtschaftliche Befreiung.“ (S.32/33.)

Eine kühne Behauptung! Hat B. Kritschewski nichts von der längst festgestellten Tatsache gehört, daß gerade die starke Beteiligung der Schicht der „Akademiker“ an der sozialistischen Bewegung der letzten Jahre dem Bernsteinianertum eine so rasche Verbreitung gesichert hat? Und von allem – worauf gründet unser Verfassen seine Meinung, daß auch „die ausgemachtesten Bernsteinianer“ auf dem Boden des Klassenkampfes für die politische und wirtschaftliche Befreiung des Proletariats stehen? Das bleibt unbekannt. Diese entschiedene Verteidigung der ausgemachtesten Bersteinianer wird durch kein einziges Argument, keine einzige Erwägung gestützt. Der Verfasser glaubt anscheinend, daß seine Behauptung keiner Beweise bedürfe, wenn en das wiederholt, was die ausgemachtesten Bernsteinianer von sich selber sagen. Aber kann man sich etwas „Oberflächlicheres“ denken als dieses Urteil über eine ganze Richtung, das sich darauf gründet, was die Vertreter dieser Richtung von sich selber sagen? Kann man sich etwas Oberflächlicheres denken als die danach folgende „Moral“ von den zwei verschiedenen und sogar diametral entgegengesetzten Typen oder Wegen der Parteientwicklung (Rabotscheje Delo, S.34/35)? Die deutschen Sozialdemokraten, heißt es, erkennen die volle Freiheit der Kritik an, die Franzosen aber nicht, und gerade ihr Beispiel zeige die ganze „Schädlichkeit der Intoleranz“.

Gerade das Beispiel B. Kritschewskis, antworten wir darauf, zeigt, daß sich manchmal Leute Marxisten nennen, die die Geschichte buchstäblich „nach Ilowaiski“ [8] auffassen. Um die Einheitlichkeit der deutschen und die Zersplitterung der französischen sozialistischen Partei zu erklären, brauche man gar nicht die Besonderheiten der Geschichte des einen und des anderen Landes zu erforschen, die Verhältnisse des militärischen Halbabsolutismus und des republikanischen Parlamentarismus einander gegenüberzustellen, die Folgen der Kommune und des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialisten zu analysieren, das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Entwicklung zu vergleichen, sieh von Augen zu halten, wie „das beispiellose Anwachsen der deutschen Sozialdemokratie“ begleitet war von einer in der Geschichte des Sozialismus einzig dastehenden Energie im Kampf nicht nun gegen die theoretischen Verirrungen (Mülberger, Dühring [C], die Kathedersozialisten), sondern auch gegen die taktischen (Lassalle) usw. usf. All das sei überflüssig! Die Franzosen zanken sich, weil sie intolerant, die Deutschen sind einig, weil sie artige Knaben sind.

Man beachte, daß mit Hilfe dieses beispiellosen Tiefsinns eine Tatsache „bestritten“ wird, die die Verteidigung der Bernsteinianer völlig zunichte macht. Ob sie auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes stehen – diese Frage kann endgültig und unwiderruflich nun durch die historische Erfahrung entschieden wenden. Folglich hat in dieser Beziehung gerade das Beispiel Frankreichs die größte Bedeutung, da Frankreich das einzige Land ist, in dem die Bernsteinianer – unter stürmischem Beifall ihrer deutschen Kollegen (und zum Teil auch der russischen Opportunisten: vgl. Rabotscheje Delo Nr.2/3, S.83/84) – den Versuch gemacht haben, sich auf eigene Füße zu stellen. Die Berufung auf die „Intoleranz“ der Franzosen erweist sich – abgesehen von ihrer (im Nosdrjowschen [10] Sinne) „geschichtlichen“ Bedeutung – einfach als Versuch, durch zornige Worte sehr unangenehme Tatsachen zu vertuschen.

Doch sind wir durchaus noch nicht gewillt, B. Kritschewski und den übrigen zahlreichen Verteidigern der „Freiheit der Kritik“ die Deutschen zu schenken. Wenn die „ausgemachtesten Bernsteinianer“ in den Reihen der deutschen Partei noch geduldet wenden können, so nun insofern, als sie sich sowohl der Hannoverschen Resolution [11] fügen, die die „Zusatzanträge“ Bernsteins entschieden verworfen hat, als auch der Lübecker Resolution [12], die (ungeachtet allen Diplomatie) eine direkte Warnung an Bernstein enthält. Man mag vom Standpunkt der Interessen der deutschen Partei darüber streiten, inwieweit diese Diplomatie angebracht war, ob in diesem Fall ein magerer Vergleich besser ist als ein tüchtigen Streit; mit einem Wort, man mag in der Beurteilung der Zweckmäßigkeit dieser oder jener Art der Ablehnung des Bernsteinianertums verschiedener Meinung rein, doch darf die Tatsache nicht übersehen werden, daß die deutsche Partei das Bernsteinianertum zweimal abgelehnt hat. Darum heißt es absolut nicht begreifen, was von allen Augen von sich geht, wenn man glaubt, das Beispiel der Deutschen bestätige die These: „Die ausgemachtesten Bernsteinianer stehen auf dem Boden des Klassenkampfes des Proletariats für seine wirtschaftliche und politische Befreiung.“ [D]

Nicht genug damit. Das Rabotscheje Delo tritt, wie wir bereits bemerkt haben, von die russische Sozialdemokratie mit der Forderung nach „Freiheit der Kritik“ und mit einer Verteidigung des Bernsteinianertums. Offenbar hat es sich davon überzeugen müssen, daß man unsere „Kritiker“ und Bernsteinianer zu Unrecht gekränkt habe. Aber wen eigentlich? wer? wo? wann? worin bestand eigentlich diese Ungerechtigkeit? Darüber schweigt sich das Rabotscheje Delo aus, es erwähnt kein einziges Mal einen russischen Kritiker und Bernsteinianer! Es bleibt uns also nun eine von zwei möglichen Annahmen übrig. Entweder ist es niemand anders als das Rabotscheje Delo selbst, das zu Unrecht gekränkt worden ist (das wird dadurch bestätigt, daß in den beiden Artikeln der Nr.10 nun von Kränkungen die Rede ist, die die Sarja und die Iskra dem Rabotscheje Delo zugefügt hätten). Wie soll man dann aber die merkwürdige Tatsache erklären, daß das Rabotscheje Delo, das stets so hartnäckig in Abrede gestellt hat, mit dem Bernsteinianertum solidarisch zu rein, nichts zur eigenen Verteidigung vorzubringen vermochte, ohne für die „ausgemachtesten Bernsteinianer“ und für die Freiheit der Kritik ein Wort einzulegen? Oder es sind irgendwelche dritte Personen zu Unrecht gekränkt worden. Welches können dann die Gründe sein, über sie zu schweigen?

So sehen wir, daß das Rabotscheje Delo dasselbe Versteckspiel fortsetzt, das es (wie wir weiter unten zeigen werden) getrieben hat, solange es besteht. Und ferner beachte man diese erste tatsächliche Anwendung der gepriesenen „Freiheit der Kritik“. In Wirklichkeit reduzierte sich diese sofort nicht nur auf das Fehlen jeder Kritik, sondern auch auf das Fehlen jedes selbständigen Urteils überhaupt. Dasselbe Rabotscheje Delo, das das russische Bernsteinianertum (nach dem treffenden Ausdruck Starowers [14]) wie eine heimliche Krankheit verschweigt, schlägt von, zur Heilung diesen Krankheit das letzte deutsche Rezept gegen die deutsche Abart der Krankheit ganz einfach abzuschreiben! Anstatt Freiheit der Kritik sklavische, ... schlimmer: äffische Nachahmung! Der gleiche soziale und politische Inhalt des heutigen internationalen Opportunismus äußert sich in diesen oder jenen Abarten entsprechend den nationalen Besonderheiten. In dem einen Lande trat die Gruppe der Opportunisten seit jeher unter einer besonderen Flagge auf, in dem anderen vernachlässigten die Opportunisten die Theorie und betrieben praktisch die Politik der Radikalsozialisten, in dem dritten sind einige Mitglieder der revolutionären Partei ins Lager des Opportunismus übergelaufen und sind bestrebt, nicht in offenem Kampf um die Prinzipien und um eine neue Taktik ihre Ziele zu erreichen, sondern durch eine allmähliche, unmerkliche und, wenn man so ragen darf, straflose Demoralisierung ihrer Partei; in dem vierten wenden ebensolche Überläufer die gleichen Methoden im Halbdunkel der politischen Sklaverei und bei einer völlig originellen Wechselbeziehung von „legaler“ und „illegaler“ Tätigkeit an usw. Von Freiheit der Kritik und des Bernsteinianertums als Vorbedingung für die Vereinigung der russischen Sozialdemokraten reden zu wollen und dabei nicht zu analysieren, worin gerade das russische Bernsteinianertum zutage getreten ist und welche besonderen Früchte er gezeitigt hat, das heißt dar Wort ergreifen, um nichts zu sagen.

Versuchen wir also selber, wenn auch nun in wenigen Worten, das zu sagen, was das Rabotscheje Delo nicht zu sagen wünschte (oder vielleicht nicht einmal zu begreifen vermochte).

 

 

Fußnoten von Lenin

B. Der Vergleich der beiden Strömungen im revolutionären Proletariat (der revolutionären und der opportunistischen) mit den beiden Strömungen in der revolutionären Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts (der jakobinischen, dem „Berg“, und der girondistischen) ist im Leitartikel der Iskra Nr.2 (Februar 1901) angestellt worden. Der Verfasser dieses Artikels ist Plechanow. Bis zum heutigen Tage lieben es die Kadetten, die „Bessaglawzen“ [7] und die Menschewiki, vom „Jakobinertum“ in der russischen Sozialdemokratie zu sprechen. Aber daß Plechanow zum erstenmal diesen Begriff gegen den rechten Flügel der Sozialdemokratie gebraucht hat, das wird heute lieber verschwiegen oder ... vergessen. (Anmerkung des Verfassers zur Ausgabe von 1907. Die Red.)

C. Als Engels gegen Dühring vom Leder zog, da neigten ziemlich viele Vertreter der deutschen Sozialdemokratie zu den Ansichten Dührings, und Engels wurde sogar öffentlich, auf dem Parteitag, mit Vorwürfen überschüttet, zu scharf, zu intolerant, zu unkameradschaftlich in der Polemik vorgegangen zu rein usw. Most und Genossen beantragten (auf dem Parteitag von 1877 [9]), die Veröffentlichung der Engelsschen Artikel im Vorwärts einzustellen, da sie „für die weitaus größte Mehrheit der Leser ... völlig ohne Interesse... sind“. Vahlteich erklärte, daß die Aufnahme dieser Artikel der Partei großen Schaden bringe, daß auch Dühring der Sozialdemokratie viel genützt habe: „Wir haben alle im Interesse der Partei zu benützen, aber wenn sich die Professoren streiten, ist der Vorwärts nicht das Forum, von dem dieser Streit ausgefochten werden darf“ (Vorwärts Nr.65 vom 6. Juni 1877). Man sieht, auch das ist ein Beispiel, wie die „Freiheit der Kritik“ verteidigt wird, und es würde nichts schaden, wenn unsere legalen Kritiker und illegalen Opportunisten, die sich so gern auf die Deutschen berufen, über dieses Beispiel nachdenken wollten!

D. Es muß bemerkt werden, daß sich das Rabotscheje Delo in der Frage des Bernsteinianertums in der deutschen Partei stets auf die nackte Wiedergabe von Tatsachen beschränkt und jedem eigenen Beurteilung völlig „enthalten“ hat. Siehe z.B. Nr.2/3, S.66: über den Stuttgarter Parteitag [13]; alle Meinungsverschiedenheiten werden auf die „Taktik“ reduziert, und es wird lediglich festgestellt, daß die übergroße Mehrheit der alten revolutionären Taktik treu geblieben ist. Oder Nr.4/5, S.25ff.: eine einfache Wiedergabe der Reden auf dem Hannoverschen Parteitag mit Anführung der Resolution Bebels; die Darstellung und die Kritik der Ansichten Bernsteins werden wiederum (wie in Nr.2/3) einem „besondern Artikel“ vorbehalten. Kurios ist es daß wir auf S.33 der Nr.4/5 lesen: die von Bebel dargelegten Ansichten haben die übergroße Mehrheit des Parteitages hinter sich“, und etwas weiter unten: David verteidigte die Ansichten Bernsteins ... Von allem bemühte en sich nachzuweisen, daß ... Bernstein und seine Freunde immerhin (sic!) auf dem Boden des Klassenkampfes stehen ...“ So schrieb man im Dezember 1899, im September 1901 aber scheint das Rabotscheje Delo nicht mehr zu glauben, daß Bebel recht hat, und wiederholt die Ansichten Davids als seine eigenen!

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008