Wladimir Iljitsch Lenin

 

Arbeiterklasse und Neomalthusianismus

(Juni 1913)


Aus W. I. Lenin, Werke, Bd. 19, Berlin 1977, S. 225–227,
Geschrieben am 6. (19.) Juni 1913.
Veröffentlicht am 16. Juni 1913.
Nach dem Text der Prawda in der Prawda, Nr. 137.
Unterschrift: „W.J.“
Transkription von Rosemarie Nünning.
HTML-Markierung von Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Großes Interesse und ausgedehnte Debatten hat auf dem Pirogow-Ärztekongreß die Frage der Abtreibung, d. h. der künstlichen Herbeiführung einer Fehlgeburt, hervorgerufen. Der Referent Litschkus führte Daten an, die die außerordentlich starke Verbreitung der Fruchtabtreibung in den modernen sogenannten Kulturstaaten zeigen.

In New York betrug die Zahl der künstlichen Fehlgeburten in einem einzigen Jahr 80.000, in Frankreich erreicht sie allmonatlich 360.00. In Petersburg hat sich der Prozentsatz der künstlichen Fehlgeburten in 5 Jahren mehr als verdoppelt.

Der Pirogow-Ärztekongreß nahm eine Entschließung an, die sich gegen jede strafrechtliche Verfolgung der Mutter wegen eines künstlichen Aborts ausspricht, während Ärzte deswegen nur im Fall „eigennütziger Zwecke“ bestraft werden sollen.

In der Diskussion sprach sich die Mehrheit für Straflosigkeit des Aborts aus und berührte natürlich auch die Frage des sogenannten Neomalthusianismus (künstliche Maßnahmen zur Empfängnisverhütung), wobei auch über die soziale Seite der Sache gesprochen wurde. So erklärte z. B. laut Bericht des Russkoje Slowo [1] Herr Wigdortschik, daß „die empfängnisverhütenden Maßnahmen zu begrüßen sind“, und Herr Astrachan rief unter stürmischem Beifall aus:

„Wir sollen die Mütter überreden, Kinder in die Welt zu setzen, damit sie in den Unterrichtsanstalten verdorben werden, damit sie als Rekruten ausgelost werden können, damit sie zum Selbstmord getrieben werden!“

Wenn die Mitteilung zutrifft, daß eine solche Deklamation des Herrn Astrachan stürmischen Beifall auslöste, so ist diese Tatsache für mich nicht verwunderlich. Die Hörer waren Bourgeois, mittlere und kleine, mit einer kleinbürgerlichen Mentalität. Was kann man von ihnen anderes erwarten als den allerplattesten Liberalismus?

Doch vom Standpunkt der Arbeiterklasse gesehen, läßt sich kaum ein augenfälligerer Ausdruck des ganzen reaktionären Wesens und der ganzen Jämmerlichkeit des „sozialen Neomalthusianismus“ finden als der angeführte Satz des Herrn Astrachan.

„Kinder in die Welt setzen, damit sie verdorben werden ...“ Nur dazu? Warum nicht dazu, daß sie besser, einmütiger, bewußter, entschlossener als wir den Kampf führen gegen die bestehenden, unsere Generation verderbenden und zugrunde richtenden Lebensbedingungen??

Hierin eben liegt der grundlegende Unterschied zwischen der Mentalität des Bauern, des Handwerkers, des Intellektuellen, des Kleinbürgers überhaupt, und der Mentalität des Proletariers. Der Kleinbürger sieht und fühlt, daß er zugrunde geht, daß das Leben immer schwerer, der Existenzkampf immer grausamer, daß seine und seiner Familie Lage immer auswegloser wird. Das ist eine unbestreitbare. Tatsache. Und der Kleinbürger protestiert dagegen.

Aber wie protestiert er?

Er protestiert wie der Vertreter einer hoffnungslos zugrunde gehenden, an ihrer Zukunft verzweifelnden, eingeschüchterten und feigen Klasse. Man kann nichts machen, da ist es schon besser, weniger Kinder zu haben, die ja doch nur unsere Qualen, unsere Schinderei, unser Elend und unsere Demütigungen miterdulden müssen – das ist der Aufschrei des Kleinbürgers.

Der klassenbewußte Arbeiter ist unendlich weit entfernt von diesem Standpunkt. Er läßt sich von solchem Gejammer, wie aufrichtig und tiefgefühlt es auch sei, nicht das Bewußtsein vernebeln. Jawohl, wir, die Arbeiter, wie auch die Masse der Kleinbesitzer führen ein Leben voller unerträglicher Bedrückung und Leiden. Unsere Generation hat es schwerer als unsere Väter. In einer Beziehung aber sind wir weitaus glücklicher daran als unsere Väter. Wir haben es gelernt und lernen es schnell, zu kämpfen – und nicht als einzelne zu kämpfen, wie die Besten unter unseren Vätern gekämpft haben, nicht im Namen von Losungen bürgerlicher Schönredner, die uns im Innern fremd sind, sondern im Namen unserer eigenen Losungen, der Losungen unserer Klasse. Wir kämpfen besser als unsere Väter. Unsere Kinder werden noch besser kämpfen, und sie werden siegen.

Die Arbeiterklasse geht nicht zugrunde, sondern wächst, erstarkt, wird reifer, schließt sich zusammen, schult und stählt sich im Kampf. Wir sind Pessimisten in bezug auf die Leibeigenschaftsordnung, den Kapitalismus und die Kleinproduktion, aber wir sind glühende Optimisten in bezug auf die Arbeiterbewegung und ihre Ziele. Wir legen bereits das Fundament eines neuen Gebäudes, und unsere Kinder werden es zu Ende bauen.

Eben darum – und nur darum – sind wir unbedingte Feinde des Neomalthusianismus, dieser Strömung für das verknöcherte, egoistische Spießerpärchen, das erschreckt murmelt: Wenn wir uns nur selber, mit Gottes Hilfe, irgendwie durchschlagen, auf Kinder verzichten wir aber besser.

Selbstverständlich hindert uns das nicht im geringsten, die unbedingte Aufhebung aller Gesetze zu fordern, die die Abtreibung oder die Verbreitung medizinischer Werke über empfängnisverhütende Mittel usw. unter Strafe stellen. Solche Gesetze sind nichts als eine Heuchelei der herrschenden Klassen. Diese Gesetze kurieren nicht die Schwären des Kapitalismus, sondern machen sie nur besonders bösartig, besonders unerträglich für die unterdrückten Massen. Die Freiheit der medizinischen Propaganda und der Schutz der elementarsten demokratischen Rechte der Bürger und Bürgerinnen – das ist eine Sache. Eine andere Sache ist die soziale Lehre des Neomalthusianismus. Die klassenbewußten Arbeiter werden stets den rücksichtslosesten Kampf führen gegen jeden Versuch, diese reaktionäre und feige Lehre der fortgeschrittensten, stärksten, zu großen Veränderungen am meisten bereiten Klasse der bestehenden Gesellschaft aufzuzwingen.


Anmerkung

1. Tageszeitung, die ab 1895 von I. D. Sytin in Moskau herausgegeben wurde. Von Januar 1918 bis zu ihrem endgültigen Verbot im Juli 1918 erschien sie unter den Namen Nowoje Slowo (neues Wort) und Nasche Slowo (Unser Wort).


Leztzte Aktualisierung: 29. September 2016