Karl Marx

 

Kritik des Gothaer Programms

Brief an Wilhelm Bracke

(Mai 1975) [1]

 

London, 5. Mai 1875

Lieber Bracke!

Nachstehende kritische Randglossen zu dem Koalitionsprogramm sind Sie wohl so gut, nach Durchlesung, zur Einsicht an Geib und Auer, Bebel und Liebknecht mitzuteilen. Ich bin überbeschäftigt und muß schon weit über das Arbeitsmaß hinausschießen, das mir ärztlich vorgeschrieben ist. Es war mir daher keineswegs ein „Genuß“, solch langen Wisch zu schreiben. Doch es war notwendig, damit später meinerseits zu tuende Schritte von den Parteifreunden, für welche diese Mitteilung bestimmt ist, nicht mißdeutet werden.

<Nach anbehaltenem Koalitionskongreß werden Engels und ich nämlich eine kurze Erklärung veröffentlichen, des Inhalts, daß wir besagtem Prinzipienprogramm durchaus fernstehen und nichts damit zu tun haben.>

Es ist dies unerläßlich, da man im Ausland die von Parteifeinden sorgsam genährte Ansicht – die durchaus irrige Ansicht – hegt, daß wir die Bewegung der sog. Eisenacher Partei insgeheim von hier aus lenken. Noch in einer jüngst erschienenen russischen Schrift [2] macht Bakunin mich z.B. <nicht nur> für alle Programme etc. jener Partei verantwortlich<, sondern sogar für jeden Schritt, den Liebknecht, vom Tag seiner Kooperation mit der Volkspartei [3] an, getan hat>.

Abgesehn davon ist es meine Pflicht, ein nach meiner Überzeugung durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm auch nicht durch diplomatisches Stillschweigen anzuerkennen.

Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Konnte man also nicht – und die Zeitumstände ließen das nicht zu – über das Eisenacher Programm [4] hinausgehn, so hätte man einfach eine Übereinkunft für Aktionen gegen den gemeinsamen Feind abschließen sollen. Macht man aber Prinzipienprogramme (statt diese bis zur Zeit aufzuschieben, wo dergleichen durch längere gemeinsame Tätigkeit vorbereitet war), so errichtet man vor aller Welt Marksteine, an denen sie die Höhe der Parteibewegung mißt.

Die Chefs der Lassalleaner kamen, weil die Verhältnisse sie dazu zwangen. Hätte man ihnen von vornherein erklärt, man lasse sich auf keinen Prinzipienschacher ein, so hätten sie sich mit einem Aktionsprogramm oder Organisationsplan zu gemeinschaftlicher Aktion begnügen müssen. Statt dessen erlaubt man ihnen, sich mit Mandaten bewaffnet einzustellen, und erkennt diese Mandate seinerseits als bindend an, ergibt sich also den Hülfsbedürftigen auf Gnade und Ungnade. Um der Sache die Krone aufzusetzen, halten sie wieder einen Kongreß vor dem Kompromißkongreß, während die eigne Partei ihren Kongreß post festum hält. <Man wollte offenbar alle Kritik eskamotieren und die eigne Partei nicht zum Nachdenken kommen lassen.gt; Man weiß, wie die bloße Tatsache der Vereinigung die Arbeiter befriedigt, aber man irrt sich, wenn man glaubt, dieser augenblickliche Erfolg sei nicht zu teuer erkauft. Übrigens taugt das Programm nichts, auch abgesehn von der Heiligsprechung der Lassalleschen Glaubensartikel.

<Ich werde Ihnen in der nächsten Zeit die Schlußlieferung der französischen Ausgabe des Kapitals [5] schicken. Der Fortgang des Drucks war auf längere Zeit durch Verbot der französischen Regierung gehemmt. Diese Woche oder Anfang der nächsten wird die Sache fertig. Haben Sie die früheren 6 Lieferungen erhalten? Schreiben Sie mir gefälligst auch die Adresse von Bernhard Becker, dem ich ebenfalls die Schlußlieferungen schicken muß.>

Die Volksstaats-Buchhandlung hat eigne Manieren. So hat man mir bis zu diesem Augenblick z.B. auch nicht ein einziges Exemplar des Abdrucks des Kölner Kommunistenprozesses [6] zukommen lassen.

Mit bestem Gruß
Ihr Karl Marx

 

 

Anmerkungen

1. Am Kopf des Briefes hat Marx folgende Bemerkung zugefügt: „N[ota]bene. Das Manuskript muß in Ihre Hände zurückkehren, damit es mir nötigenfalls zu Gebot steht.“

2. Diese Schrift Bakunins erschien 1873 unter dem Titel Gossudarstwennost i anarchija anonym und ohne Ortsangabe in der Schweiz in russischer Sprache. Die Haltlosigkeit der von Bakunin vorgebrachten Beschuldigungen wurde von Marx in einem Konspekt des Buches Bakunins bewiesen (Marx u. Engels, Werke, Bd.18, S.599-642).

3. Die Deutsche Volkspartei entstand 1865; sie setzte sich aus den demokratischen elementen der Kleinbourgeoisie, teilweise aus Vertretern der Bourgeoisie – besonders des süddeutschen Staaten – zusammen. Im Gegensatz zu den Nationalliberalen trat die Deutsche Volkspartei gegen die hegemonie Preußens in Deutschland auf und bestand auf einem föderativen Großdeutschland, dem sowohl Preuß als auch Österreich angehören sollten. diese partei, die eine antipreußische Politik betrieb und allgemein-demokratische Losungen verfocht, war zugleich Fürsprecherin der partikularistischen bestrebungen einiger deutscher Staaten. Sie propagierte die idee eines deutschen bundesstaates und trat gleichzeitig gegen die vereinigung Deutschlands in Form einer einheitlichen zentralisierten demokratischen Republik auf.

1866 schloß sich der Deutschen Volkspartei die Sächsische Volkspartei an, deren Kern aus Arbeitern bestand. Dieser linken Flügel der Volkspartei hatte seinem Wesen nach nichts mit der volkspartei gemein, außer der antipreußischen Haltung; er strebte danach, mit vereinten Kräften die nationale Einigung des landes auf demokratischem Wege zu erreichen. In der Folgezeit entwickelte sich dieser Flügel in sozialistsicher Richtung. Der hauptteil der Partei schloß sich nach Trennung von den kleinbürgerlichen Demokraten im August 1869 der Sozialdemokratischen arbeiterpartei (eisenacher) an.

4. Eisenacher Programm von 1869 (Programm und Statuten der sozial-demokratischen Arbeiter-Partei) – angenommen auf dem allgemeinen deutschen sozialdemokratischen Arbeiterkongreß, der von 7. bis 9. august 1869 in Eisenach stattfand. Auf diesem Kongreß, an dem auch Vertreter verschiedener deutscher Arbeitervereine Österreichs und der Schweiz teilnahmen, wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die sich auf die Prinzipien des revolutionären Sozialismus stützte. diese Partei war in der Auseinandersetzung mit dem Opportunismus Lassalles unter entscheidendem einfluß von Mar und Engels entstanden. Ihr Programm war vom Geist der Internationale erfüllt. Führer und Mitglieder dieser Partei wurden auch Eisenacher genannt.

5. Die autorisierte französische Übersetzung des Kapitals wurde in Paris von 1872 bis 1875 in Fortsetzungen veröffentlicht.

6. Kölner Kommunistenprozeß – Es handelt sich um Marx’ Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln (Marx u. Engels, Werke, Bd.8, s.405-470), die der Volksstaat in Leipzig 1874 in Fortsetzungen zum erstenmal in Deutschland veröffentlichte und die 1875 vom Verlag der Zeitung als Buch herausgegeben wurde.

 


Zuletzt aktualisiert am 12.10.2003