Leo Trotzki

 

Aussichten der Weltentwicklung


IX. Kriegs- und Revolutionsaussichten

Dieses amerikanische „pazifistische“ Programm der Allerweltsverknechtung ist keineswegs ein friedliches: im Gegenteil, es trägt in sich Keime von Kriegen und größten revolutionären Erschütterungen. Nicht umsonst vergrößert Amerika seine Flotte. Mit dem größten Eifer baut es leichte und schnelllaufende Kreuzer, U-Boote und Hilfsfahrzeuge. Und wenn England einen schüchternen Protest wagt, dann antwortet U.S.-Amerika: vergesst nicht, dass ich nicht nun dem Verhältnis zu euch – wie 5 : 5 – gerecht werden muss, sondern auch dem zu Japan, wie 5 : 3; Japan hat eine Überzahl von leichten Kreuzern, und ich muss die Proportion herstellen. Es nimmt den Multiplikanden, den größer ist, und multipliziert ihn mit seinem Washingtoner Koeffizienten. Die anderen können ja nicht mitmachen, denn die Vereinigten Staaten behaupten ja selbst, dass sie die Kriegsschiffe wie Semmeln backen können. Das sind die Aussichten für die großen Weltraufereien, die sich auf dem Stillen und Atlantischen Ozean abspielen wenden; vorausgesetzt, dass die Bourgeoisie noch lange die Welt regieren wird! Denn die Vorstellung, dass die Bourgeoisie aller Länder sich demütig treten lassen und sich widerstandslos in einen Vasall Amerikas verwandeln wird, ist nicht haltbar. Zu groß sind die Widersprüche, zu mächtig die Profitgier, zu unausrottbar das Bestreben nach der Erhaltung der alten Weltherrschaft, zu alt die Gewohnheit Englands die Welt zu regieren. Die militärischen Konflikte sind unausbleiblich. Die einsetzende Ära des „pazifistischen“ Amerikanismus bereitet neue Kriege von unerhörter Größe und nie dagewesener Ungeheuerlichkeit vor.

Kehren wir nun zu der Frage zurück, die ich in meiner Darstellung als das Zentralproblem hingestellt habe – welche Chancen dem gegenwärtigen europäischen Reformismus beschieden sind, und beantworten wir sie folgendermaßen: die Chancen des europäischen Reformismus stehen bis zu einem gewissen Zeitpunkt in direktem Verhältnis zu den Chancen des amerikanischen imperialistischen „Pazifismus“. Wenn die Arbeit der Verwandlung Europas in eine amerikanische Dominion von neuem Typus einen gewissen Erfolg haben, d.h. nicht schon in den nächsten Jahren auf einen Widerstand den Völker stoßen wird, sie also nicht durch Krieg oder Revolution gestört wird, dann wird dementsprechend auch die europäische Sozialdemokratie, als Schatten des amerikanischen Kapitals, ihren Einfluss bis zu einem gewissen Gnade bewahren, dann wird in Europa jenes faule Gleichgewicht weiterbestehen, das aus den Resten der alten Vorherrschaft und den Anfängen des neuen, mit amerikanischen Rationen normierten ärmlichen Lebens gebildet wird. Alles das wird mit einer ideologischen Soße aus aufgewärmten Wahrheiten der europäischen Sozialdemokratie und quäkerhaft-pazifistischer amerikanischer Brühe bedeckt sein. Es dürfte schwer sein, sich eine üblere und trostlosere Zukunft vorzustellen. Die Frage ist also nicht so zu formulieren: Welche Kräfte besitzt die europäische Sozialdemokratie? sondern: welche Chancen hat das amerikanische Kapital bei der kärglichen Finanzierung Europas, das neue Regime aufrechtzuerhalten? Hierüber lassen sich keinerlei genaue Prophezeiungen machen. Um so weniger lässt sich die Dauer dieser Prozesse bestimmen. Aber es genügt, wenn wir die neue Mechanik der internationalen Beziehungen erfassen, uns die grundlegenden Faktoren, die die Lage in Europa bestimmen werden, klarmachen, die Entwicklung der Ereignisse verfolgen, Erfolge und Misserfolge des Hauptfaktors den gegenwärtigen Epoche, der Vereinigten Staaten von Nordamerika, feststellen, die politische Zickzacklinie der europäischen Sozialdemokratie verstehen und damit die Plus auf Seiten den proletarischen Revolution steigern. Es steht dabei von Anfang an fest, dass jene Gegensätze, die den imperialistischen Krieg vorbereitet und Europa vor zehn Jahren in den Krieg gestürzt haben, dass jene Gegensätze, die durch den Krieg verschärft, durch den Versailler Frieden festgenagelt und durch den weiteren Verlauf des Klassenkampfes in Europa vertieft worden sind – dass alle diese Gegensätze auch jetzt, klaffenden Wunden gleich, bestehen bleiben. Und die Vereinigten Staaten werden die ganze Schärfe dieser Gegensätze zu spüren bekommen.

Es ist eine schwierige Sache, ein hungerndes Land zu rationieren, wir wissen das aus eigener Erfahrung. Es ist wahr, wir taten das unter ganz anderen Verhältnissen, von ganz anderen Voraussetzungen ausgehend, der eisernen Notwendigkeit des Kampfes um die Rettung des revolutionären Landes gehorchend. Aber diese Erfahrung hat uns gezeigt, dass das Regime der Hungerration zu Unruhen führt, die, anwachsend, zum düsteren Aufstand von Kronstadt beigetragen haben. Von kapitalistischen Erwägungen ausgehend, durch die Logik des imperialistischen Wuchergeistes dazu gezwungen, macht Amerika jetzt ein Rationierungsexperiment, das in gigantischem Ausmaße viele Völker und Staaten umfasst. Ohne Widerstand, ohne harten Kampf an den Brennpunkten der nationalen und der Klassengegensätze wird sich diesen Plan nicht realisieren lassen. Je mehr sich die Macht des amerikanischen Kapitals in politische Initiative verwandeln wird – und dieser Prozess ist stetig im Wachsen –, desto mehr wird das amerikanische Kapital international expandieren, desto mehr werden die amerikanischen Bankiers die Regierungen Europas terrorisieren, und zwar wird sich dieser Prozess um so mehr verschärfen, je zentralisierter und dadurch entschlossener der Widerstand der breitesten, nicht nun proletarischen, sondern auch kleinbürgerlich-bäuerlichen Massen Europas sein wird – denn, meine Herren Amerikaner, die Idee, Europa in den Zustand einer Kolonie zu versetzen, ist gar nicht so einfach, wie Ihr Euch das denkt!

Wir treten in diesen Prozess ein, wir stehen noch ganz an seinem Anfange. Das verhungerte deutsche Proletariat hat jetzt, zum erstenmal nach einer Reihe von Jahren, eine armselige Besserung seiner Lage erfahren. Ihr wisst, dass, wenn der Arbeiter furchtbar erschöpft ist, lange gehungert hat, er dann den geringsten Erleichterung sehr zugänglich ist. Und er erlebt sie jetzt in der Stabilisierung der Währung und des Arbeitslohns; gerade dadurch ist den deutschen Sozialdemokratie eine gewisse politische Stabilisierung, d.h. eine vorübergehende Balance zurückgegeben worden. Aber das reicht nicht für lange. Amerika denkt nicht daran, die deutschen Rationen zu erweitern, zumal jene Rationen, die für die deutschen Arbeiter bestimmt sind. Dasselbe gilt auch für die französischen und englischen Arbeiter in abgestuftem Gnade. Denn was will Amerika? Es will auf Kosten der werktätigen Massen Europas und den ganzen Welt seine Profite sichern, und eben dadurch – die privilegierte Stellung der amerikanischen Arbeiteraristokratie festigen. Das amerikanische Kapital kann sich ohne die Spitzen der amerikanischen Arbeiterklasse nicht halten; ohne die Trade-Unions Gompers’, ohne die gut bezahlten qualifizierten Arbeiter wird das politische Regime des amerikanischen Kapitals Schiffbruch erleiden. Aber man kann die amerikanische Arbeiteraristokratie nur dann in dieser privilegierten Lage erhalten, wenn man den europäischen „Plebs“, den proletarischen Pöbel, auf geizig abgewogene, kärglich bemessene Hungerration setzt ... Je weiter die Entwicklung in dieser Richtung fortschreiten wird, um so schwerer wird es der europäischen Sozialdemokratie fallen, das Evangelium des Amerikanismus von der Kritik der europäischen Arbeitenmassen zu verteidigen, um so zentralisierter wird sich der Widerstand der europäischen Arbeiter gegen den Herrn den Herren, gegen das amerikanische Kapital, gestalten, und um so unmittelbarer, praktischer und kampfkräftigen wird für die europäischen Arbeiter die Parole den großen europäischen Revolution und ihrer Staatsform sein: Vereinigte Sowjetstaaten von Europa! Womit schläfert und vergiftet die Sozialdemokratie das Bewusstsein den europäischen Arbeiter ein? Sie sagt ihnen: Wir – das zersplitterte, durch den Versailler Frieden zerstückelte Europa – können ohne Amerika nicht leben. Die europäische kommunistische Partei aber wird sagen: Das ist eine Lüge, wir können, wenn wir nur wollen. Wir sind nicht verpflichtet, das zersplitterte Europa zu sein. Wir können das vereinigte Europa sein. Nun das revolutionäre Proletariat kann Europa zu einer Einheit machen, es in die proletarischen Vereinigten Staaten von Europa verwandeln. Amerika ist mächtig. Amerika ist weit mächtiger als die kleine englische Insel, die sich auf ihre in der ganzen Welt verstreuten Kolonien stützt. Und wir sagen: Amerika wird gegen das vereinigte, mit uns zu einer Sowjetunion verschmolzene Europa der Arbeiter und Bauern ohnmächtig sein.

Das amerikanische Kapital fühlt das. Der Bolschewismus hat keinen grundsätzlicheren und unversöhnlicheren Feind als den amerikanischen Kapitalismus. Hughes, seine Politik – das ist keine zufällige Laune, das ist der Willensausdruck des konzentriertesten Kapitals, das jetzt den offenen Kampf um seine Weltherrschaft eröffnet. Wir sind ihm allein schon deshalb ein Hindernis, weil die Wege über den Stillen Ozean nach China und Sibirien führen. Der Gedanke an die Kolonisierung Sibiriens ist eine den liebsten Ideen des amerikanischen Imperialismus. Aber der Weg dorthin wird ihm von einem Wachtposten verwehrt. Wir haben das Monopol des Außenhandels. Wir haben die sozialistischen Grundlagen der Wirtschaftspolitik. Das ist das erste Hindernis auf dem Wege zur absolutistischen Weltherrschaft des amerikanischen Kapitals. Und sogar dann, wenn das amerikanische Kapital mit seinen Parole den „offenen Tür“ nach China eindringen wird – und es beginnt bereits einzudringen –, wird es dort in den Volksmassen Chinas nicht die Religion des Amerikanismus vorfinden, sondern das ins Chinesische übersetzte politische Programm des Bolschewismus. Wilson, Harding, Coolidge, Morgan, Rockefeller – das sind nicht die Namen, die der chinesische Kuli, der chinesische Bauer im Munde führt. Nicht nun in China, sondern im ganzen Osten wird der Name „Lenin“ mit Begeisterung wiederholt. U.S.-Amerika kann England nun mit den Parole den Völkerbefreiung unterminieren. Aber diese Parole ist nun eine politische Heuchelei, ebenso wie die amerikanische Politik des Pazifismus in Europa. Aber außer dem amerikanischen Konsul, dem amerikanischen Kaufmann, Professor und Journalisten gibt es in China Kämpfer und Revolutionäre, die es verstanden haben, das Befreiungsprogramm des Bolschewismus in ihre Sprache zu übersetzen. Immer und überall, in Europa und Asien, stößt der imperialistische Amerikanismus auf den revolutionären Bolschewismus. Das sind die zwei Grundelemente der neuen Geschichte. Ich erinnere mich eines Gesprächs mit Wladimir Iljitsch im Jahre 1919, anlässlich der Ankunft Wilsons in Europa, als die ganze bürgerliche Presse nur die zwei Namen – Wilson und Lenin – im Munde führte; damals sagte ich scherzhaft: „Lenin und Wilson – das sind die beiden apokalyptischen Grundelemente der neuen Geschichte.“ Wladimir Iljitsch lachte. Ich ahnte damals natürlich selbst nicht, welchen großen Inhalt die Geschichte in diesen Scherz legen wird. Leninismus und amerikanischer Imperialismus – nun diese zwei Grundideen kämpfen jetzt in Europa, nur diese zwei Grundideen durchschneiden die Atlantis und den Stillen Ozean. Von dem Ausgang ihres Kampfes hängt das Schicksal der Menschheit ab.

Der amerikanische Feind ist weit zentralisierter und mächtigen als die zersplitterten europäischen Feinde; aber unsere Kraft liegt in der Konzentration, und der Feind selbst konzentriert die Abwehr der Arbeiter Europas. Die Wiedererstehung der II. Internationale ist nur ein vorübergehendes und äußeres Symptom dessen, dass das Proletariat Europas gezwungen wird, sich nicht im nationalen, sondern im kontinentalen Rahmen zu fühlen und zu kämpfen. Und je mehr die breiten Arbeitermassen von dem Bedürfnis des Widerstandes erfasst werden, je breiter die Widerstandsbasis ist, um so revolutionärer werden die Ideen, die die Vorherrschaft erlangen. Aber je revolutionärer die die Massen erfassenden Ideen, desto günstiger der Boden für den Bolschewismus. Jeder Erfolg des Amerikanismus wird, soweit der Amerikanismus Erfolge haben sollte, zwangsläufig zu einer Zentralisierung des Bolschewismus in einer konzentrierteren, revolutionäreren Form, in einem wachsenden Umfange zur Folge haben. Die Zukunft ist unser!

Da ich in einen Versammlung spreche, die von der Gesellschaft der Freunde der physikalisch-mathematischen. Fakultät einberufen ist, so möchte ich jetzt, nachdem ich eine revolutionär-marxistische Kritik des Amerikanismus gegeben habe, betonen, dass wir den Amerikanismus an und für sich damit keineswegs mit Haut und Haar verneinen, dass wir uns fest vornehmen, dasjenige bei den Amerikanern und dem Amerikanismus zu lernen, was man bei ihm lernen kann und muss. Es fehlt uns die Technik den Amerikaner und ihre Arbeitserfahrung. Die Voraussetzung der Technik ist die Wissenschaft: Naturwissenschaft, Physik, Mathematik. Wir haben es dringend notwendig, den Amerikanern auf diesem Gebiet nachzueifern. Wir müssen den Bolschewismus amerikanisch beschlagen – das ist unsere Aufgabe –, uns technisch amerikanisieren. Bisher haben wir uns behaupten können, trotzdem wir noch recht schlecht „beschlagen“ waren. Aber der Kampf kann im weiteren Verlauf einen weit gewaltigeren Umfang annehmen. Es wird uns leichter fallen, amerikanische Technik und Methode bei uns zu realisieren, als dem amerikanischen Kapital – Europa und die ganze Welt zu rationieren. Wenn wir unsere noch schwache sozialistische Industrie amerikanisieren, wenn wir Naturwissenschaft, Physik, Mathematik zur Grundlage unserer Arbeit machen, dann können wir mit doppelter Sicherheit behaupten, dass die Zukunft voll und ganz auf unserer Seite sein wird. Der amerikanisierte Bolschewismus wird den imperialistischen Amerikanismus besiegen und zertreten.

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004