Leo Trotzki

 

Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale

Dritter Teil: Die Ergebnisse und Perspektiven der chinesischen Revolution und ihre Lehren für die Länder des Ostens und die gesamte Komintern


3. Demokratische Diktatur oder die Diktatur des Proletariats

Welche Bewertung der Erfahrungen der chinesischen Revolution einschließlich der Erfahrung des Kantoner Umsturzes hat nun das letzte EKKI-Plenum gegeben? Welche weitere Perspektive hat es aufgestellt? Die Resolution des Februarplenums (1928), welche den Schlüssel zu dem entsprechenden Teil des Programmentwurfs bildet, erklärt zu der chinesischen Revolution:

„Ebenso falsch ist ihre Charakterisierung als eine ‚permanenten‘ Revolution. (Die Haltung des Vertreters des EKKI). Das Annahme einer Tendenz zur Überspringung (?) der bürgerlich-demokratischen Etappe der Revolution bei gleichzeitiger (?) Beurteilung der Revolution als einer ‚permanenten‘ Revolution ist ein Fehler analog jenem, den Trotzki im Jahre 1905 (?) begangen hat.“ [Inprekorr, Nr.26, 10.3.1928, S.498f., hier S.498]

Das ideologische Leben der Komintern besteht seit dem Abgang Lenins von der Leitung, also seit dem Jahre 1923 vorwiegend in einer Bekämpfung des sogenannten „Trotzkismus“ und insbesondere auch der „permanenten“ Revolution. Wie hat es also geschehen können, dass nicht allein das Zentralkomitee der chinesischen Kommunistischen Partei, sondern auch der offizielle Vertreter der Komintern, der doch mit den offiziellen Spezialinstruktionen wohlversehen war, in einer grundsätzlichen Frage der chinesischen Revolution denselben „Fehler“ begehen konnte, wegen dem schon Hunderte nach Sibirien verschickt wurden und in den Gefängnissen sitzen müssen? Der Kampf um die chinesische Frage wird beinahe schon zweieinhalb Jahre geführt. Als die Opposition erklärte, dass das alte ZK der chinesischen Kommunistischen Partei (Tscheng Du-shü) unter dem Einfluss der falschen Direktiven der Komintern eine opportunistische Politik durchführe, wurde das als eine „Verleumdung“ bezeichnet. Die Führung der chinesischen Kommunistischen Partei wurde als makellos erklärt. Der „berühmte“ Tan Ping-schan beteuerte dabei unter allgemeiner Zustimmung des V. EKKI-Plenums:

„Die chinesische Partei und Jugend haben sofort beim ersten Auftreten Trotzkis eine Resolution gegen den Trotzkismus angenommen ...“ (Inprekorr, Nr.158, 27.12. 926, S.

Als aber trotz dieser „Errungenschaften“ die Ereignisse mit tragischer Logik ihren Lauf nahmen, die zum ersten und später zum noch schrecklicheren Zusammenbruch der Revolution führten, da wurde die Führung der chinesischen Kommunistischen Partei innerhalb von 24 Stunden aus einer mustergültigen zu einer menschewistischen gemacht und abgesetzt. Gleichzeitig wurde erklärt, dass die neue Leitung die Linie der Komintern voll und ganz widerspiegele. Doch kaum waren neue ernste Prüfungen eingetreten, so erwies sich, dass sich das neue Z.K. der chinesischen Partei des Übergangs – und wie wir gesehen haben, diesmal nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat – auf die Position der sogenannten „permanenten Revolution“ schuldig gemacht hatte. Auch der Vertreter der Komintern hatte den gleichen Weg beschritten. Diese erstaunliche und direkt unbegreifliche Tatsache kann man nur durch die „klaffende Schere“, die zwischen den Direktiven des EKKI und der tatsächlichen Dynamik der Revolution entstand, erklären.

Wir übergehen hier den Mythos von der „permanenten Revolution“ vom Jahre 1905, der im Jahre 1924 in die Welt gesetzt wurde, nur um Verwirrung zu säen und irrezuführen. Wir beschränken uns darauf, zu untersuchen, wie dieser Mythos sich in der Frage der chinesischen Revolution auswirkte.

Der erste Paragraph der Februarresolution, der auch das oben bereits angeführte Zitat entnommen ist, motiviert sein negatives Verhalten gegenüber der sogenannten „permanenten Revolution“ folgendermaßen:

„Die gegenwärtige Periode der Umwälzung in China ist eine Periode der bürgerlich-demokratischen Revolution, die weder vom wirtschaftlichen Standpunkt (Agrarrevolution und Vernichtung der Feudalverhältnisse) oder vom Standpunkt des nationalen Kampfes gegen den Imperialismus (Zusammenfassung Chinas zum Einheitsstaat und nationale Unabhängigkeit), noch vom Standpunkte der Klassennatur der Macht (Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft) ihren Abschluss gefunden hat.“ [a.a.O., S.498]

Diese Motivierung bildet eine fortgesetzte Kette von Fehlern und Widersprüchen. Das EKKI lehrte, dass die chinesische Revolution, die Entwicklungsmöglichkeit Chinas auf sozialistischem Wege sichern müsse. Das ist nur in jenem Falle zu erreichen, wenn die Revolution nicht bloß beim Durchführen der bürgerlich-demokratischen Aufgaben stehen bleibt, sondern aus einem Stadium in das andere hineinwächst, d.h. sich ununterbrochen (oder permanent) entwickelt und so wieder zu einer sozialistischen Entwicklung führen wird. Gerade das hat Marx unter der .permanenten Revolution“ verstanden. Wie kann man denn einerseits von einem nichtkapitalistischen Entwicklungsgang Chinas sprechen und andererseits – den permanenten Charakter der Revolution überhaupt verneinen? Doch, erwidert darauf die Resolution des EKKI. Die Revolution ist ja noch nicht beendet, weder vom Standpunkte des Agrarumsturzes, noch vom Standpunkte des nationalen Kampfes gegen den Imperialismus. Daraus wird die Folgerung von dem bürgerlich-demokratischen Charakter der „gegenwärtigen Periode der chinesischen Revolution“ gezogen. In Wirklichkeit aber ist die „gegenwärtige Periode“ eine Periode der Konterrevolution. Das EKKI will offenbar damit sagen, dass ein neuer Aufschwung der chinesischen Revolution, oder richtiger, die dritte chinesische Revolution einen bürgerlich-demokratischen Charakter haben wird, schon im Hinblick darauf, weil die zweite chinesische Revolution der Jahre 1925/27 weder die Agrarfrage noch die nationale Frage gelöst habe. Allein auch in so verbesserter Form ist diese Auslegung auf einem völligen Nichtverstehen der Erfahrungen sowohl der chinesischen wie der russischen Revolution aufgebaut.

Der Februarumsturz im Jahre 1917 in Russland hat sämtliche innere und internationale Probleme, die zu diesem Umsturz geführt haben: die Leibeigenschaft auf dem Lande, die alte Bürokratie, den Krieg und den wirtschaftlichen Zerfall, offen gelassen. Von dieser Tatsache ausgehend, versuchten nicht allein die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, sondern auch ein bedeutender Teil der Spitze unserer eigenen Partei, Lenin zu beweisen, dass „die gegenwärtige Periode der Revolution, eine Periode der bürgerlichdemokratischen Revolution ist“. In bezug auf diesen ihren Grundgedanken schreibt die Resolution des EKKI nur jene gegen den Kampf um die Diktatur des Proletariats gerichteten Entgegnungen ab, welche die Opportunisten 1917 Lenin gegenüber vorbrachten.

Weiter. Die bürgerlich-demokratische Revolution erweist sich nicht nur vom wirtschaftlichen, nationalen Standpunkt, sondern auch „vom Standpunkt der Klassenstruktur der Macht (Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft)“ als unvollendet. Das kann nur bedeuten, dass also dem chinesischen Proletariat so lange verboten ist für die Machtergreifung zu kämpfen, bis an der Spitze Chinas eine „wirkliche“ demokratische Regierung stehen wird. Leider ist darin nicht gesagt worden, wo man diese hernehmen soll.

Die Verwirrung wird noch dadurch verstärkt, dass die Parole der Räte für China zwei Jahre lang aus dem Grunde abgelehnt wurde, weil die Bildung der Räte nur bei einem Übergang zur proletarischen Revolution zulässig sei. (Stalins „Theorie“.) Als aber in Kanton der Räteumsturz kam und die an ihm Beteiligten die Folgerung zogen, dass dies nun der Übergang zur proletarischen Revolution sei, da wurden sie des „Trotzkismus“ beschuldigt. Kann man denn auf solchem Wege eine Partei erziehen und ihr bei der Lösung der allerschwersten Aufgaben helfen? Um ihre hoffnungslose Position noch zu retten, schiebt nun die Resolution des EKKI – ohne jede Verbindung mit dem ganzen übrigen Gedankengang – schnell noch ihr letztes Argument vor: den Imperialismus. Es erweist sich, dass die Tendenz, die bürgerlichdemokratische Etappe zu überspringen,

„um so schädlicher (!!) ist, als bei einer solchen Einstellung zur Frage auch die größte nationale Besonderheit der chinesischen Revolution als einer halbkolonialen Revolution in einem Halbkolonialland ausgeschaltet (?) wird.“ [a.a.O.]

Der einzige Sinn, den diese schwerverständlichen Worte haben können, ist der, dass das Joch des Imperialismus durch eine irgendwelche andere Diktatur gestürzt werden wird, nicht aber durch eine proletarische. Das bedeutet aber, dass die „wichtigste nationale Besonderheit“ im letzten Augenblick nur zu dem Zwecke herangezogen worden ist, um entweder die chinesische nationale Bourgeoisie oder die chinesische kleinbürgerliche „Demokratie“ zu idealisieren. Einen anderen Sinn kann diese Beweisführung gar nicht haben. Doch dieser einzig mögliche „Sinn“ ist von uns bereits mit genügender Ausführlichkeit in dem Kapitel „Die Struktur der kolonialen Bourgeoisie“ untersucht worden. Es ist überflüssig, zu diesem Thema zurückzukehren.

China steht noch ein ungeheurer harter, blutiger und langwieriger Kampf für solche elementaren Dinge bevor, wie es die Liquidierung der besonders „asiatischen“ Formen der Leibeigenschaft, die nationale Befreiung und die Vereinigung des Landes ist. Doch, wie es der Gang der Ereignisse gezeigt hat, geht gerade daraus die Unmöglichkeit der ferneren kleinbürgerlichen Führung und sogar der halbkleinbürgerlichen Führung hervor. Die Vereinigung und die Befreiung Chinas ist gegenwärtig eine internationale Aufgabe, eine nicht weniger internationale, als der Bestand der UdSSR. Diese Aufgabe kann nur durch einen harten Kampf der unterdrückten, hungrigen und eingeschüchterten Volksmassen unter direkter Führung der proletarischen Avantgarde, nicht allein gegen den internationalen Imperialismus, sondern auch gegen seine wirtschaftliche und politische Agentur in China gelöst werden, also durch einen Kampf gegen die Bourgeoisie – auch die „nationale“ – und gegen sämtliche nationalen demokratischen Lakaien der Bourgeoisie. Dieser Weg ist aber der Weg der Diktatur des Proletariats.

Lenin versuchte seit April 1917 seinen Gegnern, die ihn des Übergangs zur Position der „permanenten“ Revolution beschuldigten, klar zu machen, dass die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft zum Teil bereits in der Zeit der Doppelherrschaft entstanden ist. Ihre Fortsetzung aber, erklärte er später, hatte sie in der ersten Periode der Sowjetmacht gefunden, also vom November 1917 bis Juli 1918, als die Bauernschaft mit den Arbeitern zusammen den Agrarumsturz herbeiführten und die Arbeiterklasse noch nicht zu einer Konfiskation der Fabriken und Betriebe übergegangen war, sondern den Versuch der Arbeiterkontrolle machte. In bezug auf die „Klassenstruktur der Macht“ hat die demokratisch-sozialrevolutionär-menschewistische „Diktatur“ das ergeben, was sie ergeben musste; eine Frühgeburt der Doppelherrschaft. Der Agrarumsturz dagegen hat einen ganz gesunden, kräftigen Neugeborenen gebracht, doch die Hebamme war hier schon die Diktatur des Proletariats. Mit anderen Worten ist das, was in der theoretischen Formel der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft vereinigt ist, durch den Gang des Klassenkampfes in seine Bestandteile zerlegt worden. Die leere Schale einer halben Macht war vorübergehend den Kerenski-Zeretelli zur Aufbewahrung anvertraut worden, der wirkliche Kern der demokratischen Agrarrevolution fiel der siegreichen Arbeiterrevolution zu. Gerade diese dialektische Zerlegung der demokratischen Diktatur ist von der Führung des EKKI nicht verstanden worden. Sie haben sich selbst in eine politische Sackgasse verrannt, indem sie das „Überspringen der bürgerlich-demokratischen Etappe“ verurteilten und versuchten, historische Prozesse nach einem Schema zu leiten. Wenn man unter der bürgerlich-demokratischen Etappe das Durchführen der Agrarrevolution durch eine „demokratische Diktatur“ verstehen soll, so hat niemand anderer als der Oktober die bürgerlich-demokratische Etappe frech „übersprungen“. Sollte man ihn nicht dafür verurteilen? Warum muss sich denn das, was in Russland unabwendbar und der höchste Ausdruck des Bolschewismus war, in China als „Trotzkismus“ erweisen? Offenbar auf Grund derselben Logik, nach welcher man für China die Martynowsche Theorie für geeignet erklärte, die zwanzig Jahre hindurch den Bolschewismus brandmarkte.

Allein, ist hier überhaupt eine Analogie mit Russland zulässig? Die Parole der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft – antworten wir darauf – ist von der Führung des EKKI ganz ausschließlich nach der Methode der Analogie aufgebaut worden, und zwar einer formell literarischen Analogie, nicht aber einer materiell-historischen. Eine Analogie zwischen China und Russland ist vollständig zulässig, wenn man nur die richtige Tür dazu findet. Und Lenin hatte ganz vorzüglich diese Analogie benutzt, und zwar nicht etwa nachträglich, sondern im voraus, gerade als ob er die Fehler der zukünftigen Epigonen vorausgesehen hätte. Lenin war hundertmal gezwungen, die proletarische Oktoberrevolution zu verteidigen, die es ja gewagt hatte, die Macht zu erobern,trotzdem die bürgerlich-demokratischen Aufgaben noch nicht gelöst waren. Gerade darum und gerade dazu, antwortete Lenin. Lenin schrieb am 16. Januar 1923 an die Adresse der Pedanten, die sich in ihrer Stellungnahme gegen die Machtergreifung gegenüber Lenin auf die für ihn „unbestreitbare“ Feststellung über die wirtschaftliche Unreife Russlands zum Sozialismus beriefen:

„Es kommt ihnen beispielsweise gar nicht in den Sinn, dass Russland, das an der Grenze steht zwischen den zivilisierten Ländern und den erstmalig durch diesen Krieg endgültig in die Zivilisation einbezogen Ländern, den Ländern des gesamten Ostens, den außereuropäischen Ländern, dass Russland eben darum gewisse Eigentümlichkeiten aufweisen konnte und musste, die natürlich auf der allgemeinen Linie der Entwicklung der Welt liegen, die aber die russische Revolution von allen vorangegangenen Revolutionen der westeuropäischen Länder unterscheiden und beim Übergang zu den Ländern des Ostens gewisse teilweise Neuerungen mit sich bringen.“ (Über unsere Revolution, Lenin, Werke, Band 33, S.462-467, hier S.463)

Die „Eigenart“, welche Russland den Ländern des Ostens „näher bringt“ sah Lenin gerade darin, dass das junge Proletariat bereits bei der ersten Morgenröte den Besen in die Hand nehmen musste, um sich den Weg zum Sozialismus von der Barbarei, der Leibeigenschaft und sonstigem Gerumpel zu säubern.

Wenn man schon von der Leninschen Analogie Chinas und Russlands ausgehen soll, so muss man sagen, dass in China, vom Standpunkt der „politischen Struktur der Macht“ alles was nur in bezug auf die demokratische Diktatur erreichbar ist, erprobt wurde. Und zwar war das zuerst im Kanton Sun Jat-sens, dann auf dem Wege von Kanton nach Schanghai mit dem Schlussakt des Schanghaier Aufstandes, schließlich in Wuhan, wo die „linke“ Kuomintang in ihrer chemisch reinen Form, d.h. also nach den Direktiven des EKKI, als ein Organisator der Agrarrevolution; in Wirklichkeit aber als deren Henker funktionierte. Der soziale Inhalt der bürgerlichdemokratischen Revolution aber wird die erste Periode der kommenden Diktatur des chinesischen Proletariats und der Dorfarmut ausfüllen müssen, nachdem aber nicht allein die Rolle der chinesischen Bourgeoisie, sondern auch der „Demokratie“ bis zu Ende erkannt worden war, und es absolut feststeht, dass die „Demokratie“ in den kommenden Kämpfen noch stärker ihre Henkerrolle spielen wird als in den vergangenen. Die Parole der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft aufzustellen, bedeutet einfach, dass man eine Deckung für neue Abarten des Kuomintangtums schafft und dem Proletariat eine Falle stellt.

Der Vollständigkeit wegen sei hier noch erwähnt, dass Lenin jenen Bolschewik!, die fortfuhren, dem sozialrevolutionär-menschewistischen Versuch, die Parole einer „wirklichen“ demokratischen Diktatur gegenüberzustellen, ganz kurz sagte:

„Wer jetzt lediglich von einer „revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ spricht, der ist hinter dem Leben zurückgeblieben, der ist somit faktisch zum Kleinbürgertumübergegangen, der ist gegen den proletarischen Klassenkampf, der gehört in ein Archiv für ‚bolschewistische‘ vorrevolutionäre Raritäten (man könnte es Archiv „alter“ Bolschewiki nennen).“ (Lenin, Briefe über die Taktik. 1. Brief, April 1917, Lenin, Werke, Band 24, S.25-37, hier S.27)

Diese Worte klingen auch heute noch lebendig.

Es handelt sich nun keinesfalls etwa darum, dass jetzt die chinesische Kommunistische Partei unverzüglich zu einem Aufstand für die Machtergreifung aufrufen soll. Das Tempo hängt vollständig von der Situation ab. Man kann nicht die Folgen einer Niederlage durch eine bloße Revision der Taktik beseitigen. Die Revolution ist gegenwärtig im Abflauen begriffen. Das halb und halb durch die Resolution des EKKI gebilligte Gerede darüber, dass die Revolution vor einem neuen Aufschwung stehe, da ja in China zahllose Hinrichtungen vor sich gehen und eine schwere Handels- und Industriekrise herrsche, ist weiter nichts als ein verbrecherischer Leichtsinn. Nach drei der schwersten Niederlagen kann eine Wirtschaftskrise das entkräftigte Proletariat nicht aufrütteln, sondern im Gegenteil nur noch mehr unterdrücken, und die Hinrichtungen zerstören die bereits politisch geschwächte Partei. Wir finden in China eine Periode der Ebbe vor und folglich auch eine Periode der theoretischen Vertiefung und kritischen Selbsterziehung der Partei, der Bildung und Festigung von Stützpunkten auf sämtlichen Gebieten der Arbeiterbewegung, der Organisierung von Zellen auf dem Lande, der Leitung und Zusammenfassung von Teilkämpfen der Arbeiterschaft und der Dorfarmut, und zwar zuerst von Abwehrkämpfen später aber auch von Angriffskämpfen.

Womit wird die neue Flut der Massen beginnen? Welche Ereignisse werden der proletarischen Avantgarde an der Spitze einer Millionenmasse, den notwendigen revolutionären Anstoß geben? Das kann man nicht voraussagen. Ob die inneren Prozesse dazu genügen werden, oder ein Anstoß von außen zu Hilfe kommen wird, das wird die Zukunft zeigen.

Es gibt genügend Veranlassung anzunehmen, dass die Zerschlagung der chinesischen Revolution, die unmittelbar durch die falsche Führung bedingt war, es der chinesischen und der ausländischen Bourgeoisie ermöglichen wird, auf die eine oder andere Art die ungeheure gegenwärtige Wirtschaftskrise im Lande, natürlich aus den Knochen der Arbeiter und Bauern zu überwinden. Diese „Stabilisierungs“periode wird wieder die Arbeiterschaft zusammenschließen. Sie wird ihr die Klassenzuversicht wiedergeben, um später noch schärfer gegen den Feind zu stoßen, und zwar bereits auf einer höheren historischen Stufe. Nur bei einer neuen aufsteigenden Welle der proletarischen Bewegung kann man überhaupt ernstlich von einer Perspektive der Agrarrevolution reden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die erste Etappe der zukünftigen dritten Revolution, vielleicht in einer veränderten und äußerst verkürzten Form die bereits vergangenen Etappen wiederholen wird. Sie kann z.B. irgendeine neue Parodie der „allgemeinen nationalen Front“ bringen. Doch diese erste Etappe wird vielleicht nur dazu reichen, um der Kommunistischen Partei die Möglichkeit zu gehen, vor den Volksmassen ihre Aprilthesen, also ihr Programm und ihre Taktik zur Machteroberung, zu proklamieren. Was wird aber darüber in dem Programmentwurf gesagt?

„Der Übergang zur proletarischen Diktatur ist hier [China – L.T.] erst nach einer Reihe von Vorbereitungsstufen (?) möglich: erst als das Resultat der Periode des Hinüberwachsens (??) der bürgerlich-demokratischen Revolution in die sozialistische ...“ [Programmentwurf, a.a.O., S.966]

Mit anderen Worten also, sämtliche bis jetzt durchlaufene „Stufen“ werden nicht gerechnet; das was bereits längst hinter uns liegt, sieht der Programmentwurf noch vor sich liegen. Das ist es, was man eine Schwanzpolitik nennt. Dadurch werden Tür und Tor für neue Experimente im Sinne des Kuomintangkurses geöffnet. So muss die Verschleierung von alten Fehlern unfehlbar den Weg für neue Fehler vorbereiten. Wenn wir in einen neuen Aufschwung, welcher in einem viel schnelleren Tempo als der vorhergegangene vor sich gehen wird, mit dem überlebten Schema der „demokratischen Diktatur“ hineingehen werden, dann braucht man gar nicht daran zu zweifeln, dass die dritte Revolution ebenso zugrunde gerichtet werden wird, wie die zweite.

 

 

4. Das Abenteurertum als ein Produkt des Opportunismus

Der zweite Paragraph derselben Resolution des Februar-Plenums des EKKI lautet:

„Die erste Welle, der breiten revolutionären Bewegung der Arbeiter und Bauern ist vorüber, die im großen und ganzen unter den Losungen – und in erheblichem Maße auch unter der Führung der kommunistischen Partei stand. Sie hat in einer Reihe von Zentren der revolutionären Bewegung mit äußerst schweren Niederlagen der Arbeiter und Bauern geendet, mit der physischer Vernichtung eines Teils der kommunistischen und überhaupt der revolutionären Kaders der Arbeiter- und Bauernbewegung.“ [Hervorhebung von mir – L.T., a.a.O., S.498]

Solange sich die „Welle“ entfaltete, erklärte das EKKI, dass die ganze Bewegung unter der Blauen Fahne und unter der Führung der Kuomintang, die sogar die Sowjets ersetzt, vor sich gehe. Gerade darum sollte sich die Kommunistische Partei der Kuomintang unterordnen, und gerade darum ist diese revolutionäre Bewegung mit „schwersten Niederlagen“ beendet worden. Jetzt, nachdem diese Niederlagen anerkannt worden sind, wird der Versuch unternommen, die Kuomintang überhaupt aus der Vergangenheit zu streichen, als ob diese überhaupt nicht existiert und das EKKI, die Blaue Fahne nicht für ihre Fahne erklärt hätte.

Früher hat es überhaupt keine Niederlagen gegeben, weder in Schanghai noch in Wuhan, es gab nur Übergänge der Revolution „in ein höheres Stadium“. So hat man uns gelehrt. Jetzt wird die Summe dieser Übergänge ganz unerwartet als „die schwerste Niederlage der Arbeiter und Bauern“ bezeichnet. Doch um einigermaßen dieser unerhörten Bankrotterklärung der Perspektive und Einschätzung zu maskieren, wird in dem Schlussparagraphen der Resolution erklärt:

„Das EKKI macht es allen Sektionen der Komintern zur Pflicht, gegen die von den Sozialdemokraten und Trotzkisten verbreitete Verleumdung, dass die chinesische Revolution liquidiert sei (?), zu kämpfen.“[a.a.O., S.499]

Im ersten Paragraphen der Resolution hieß es, dass der „Trotzkismus“ darin bestehe, dass er die chinesische Revolution als eine permanente bezeichne, d.h. also, als eine, die gerade jetzt aus dem bürgerlichen Stadium in das sozialistische hinüberwächst. Aus dem letzten Paragraph erfahren wir, dass nach Ansicht der „Trotzkisten“ – „die chinesische Revolution liquidiert“ sei. Wie kann denn eine liquidierte Revolution, eine permanente Revolution sein? Das ist ganz Bucharin. Nur eine völlige Verantwortungslosigkeit, die nichts zu befürchten braucht, kann sich solche Wiedersprüche, die den revolutionären Gedanken schon an der Wurzel zersetzen, erlauben.

Wenn man unter „Liquidierung“ der Revolution jene Tatsache verstehen soll, dass der Angriff der Arbeiter und Bauern abgeschlagen und im Blut erstickt wurde, dass die Massen sich im Zustande des Rückzuges und der Ebbe befinden, dass, abgesehen von allen anderen, bis zu einer neuen Flut, innerhalb der Massen selbst ein Molekularprozess vor sich gehen muss, der einen gewissen Zeitabschnitt erfordert und dessen Länge man nicht im Voraus bestimmen kann, wenn man also die „Liquidierung“ auf diese Weise verstehen soll, so unterscheidet sie sich durch nichts von den „schwersten Niederlagen“, die das EKKI anzuerkennen zuletzt doch gezwungen war.

Oder soll man die Liquidierung buchstäblich als eine Erledigung der chinesischen Revolution überhaupt, also auch selbst der Möglichkeit einer unausbleiblichen Wiedergeburt derselben auf einer neuen Etappe verstehen? Man könnte von einer solchen Perspektive nur in zwei Fällen ernstlich, also nicht nur um Verwirrung zu säen, reden. Erstens, wenn China zum Verfall und völligen Untergang verurteilt worden wäre – doch zu einer solchen Annahme liegt nicht die geringste Veranlassung vor. Oder aber, zweitens, wenn sich die chinesische Bourgeoisie als fähig erwiese, die Grundprobleme des chinesischen Lebens mit ihren eigenen nichtrevolutionären Mitteln zu lösen. Ist es vielleicht diese letzte Variante, die uns jetzt von den Theoretikern des „Blocks der vier Klassen“, die die Kommunistische Partei unter das Joch der Bourgeoisie getrieben hatten, untergeschoben werden soll?

Die Geschichte wiederholt sich. Blinde, die die Ausmaße der Niederlage 1923 nicht erfassen konnten, haben uns in bezug auf die deutsche Revolution anderthalb Jahre lang des „Liquidatorentums“ beschuldigt. Doch auch diese Lehre, die der Internationale teuer zu stehen kam, hat nichts genutzt. Jetzt setzen sie in ihre alte Makulatur an Stelle von Deutschland nur China hinein. Freilich, augenblicklich ist ihr Bedürfnis, die „Liquidatoren“ aufzufinden, noch viel stärker als es vor vier Jahren gewesen ist. Denn diesmal ist es schon zu offenbar, dass, wenn jemand die zweite chinesische Revolution „liquidiert“ hat, es allein die Schöpfer des „Kuomintang“kurses waren.

Die Stärke des Marxismus besteht in der Fähigkeit zur Voraussicht. In diesem Sinne kann sich die Opposition auf die völlige Bestätigung ihrer Prognose durch die Erfahrungen berufen: Und zwar zuerst in bezug auf die Kuomintang als Ganzes, dann in der Frage der „linken“ Kuomintang, der Wuhanregierung und endlich in bezug auf den „Vorläufer“ der dritten Revolution, d.h. dem Kantoner Umsturz. Welch andere Bestätigung der Richtigkeit unserer Theorie hätte es noch geben können?

Dieselbe opportunistische Linie, die durch ihre Kapitulationspolitik vor der Bourgeoisie bereits in den beiden ersten Etappen zu den schwersten Niederlagen geführt hat, ist bei der dritten Etappe zu einer Politik der abenteurerischen Überfälle auf die Bourgeoisie hinübergewachsen und hat so die Niederlage vollständig gemacht.

Wenn es die Führung gestern nicht so eilig gehabt hätte, die durch sie hervorgerufenen Niederlagen zu überspringen, so hätte sie vor allen Dingen der chinesischen Kommunistischen Partei auseinandergesetzt, dass der Sieg nicht auf den ersten Hieb errungen wird, dass auf dem Wege zum bewaffneten Aufstand noch eine Periode des anstrengenden, unermüdlichen harten Kampfes um den politischen Einfluss auf die Arbeiter und Bauern steht.

Am 27. September 1927 habe ich im Präsidium des EKKI gesagt:

„Die Zeitungen von heute teilen mit, dass die revolutionäre Armee Schantou erobert hat. Bereits seit einigen Wochen sind die Armeen von He-Long und Ye-Ting auf dem Vormarsch. Die Prawda bezeichnet diese Armeen als ‚revolutionäre Armeen‘.

Aber ich frage Sie: Welche Perspektiven eröffnet dieser Vormarsch der revolutionären Armee, die Schantou erobert hat, für die chinesische Revolution? Was sind ihre Losungen? Was ist ihr Programm? Wie soll ihre Organisationsform aussehen? Was ist aus der Losung ‚Räte in China‘ geworden, die im Juli so plötzlich einen Tag lang von der Prawda proklamiert wurde?“

Ohne eine vorherige Gegenüberstellung der Kommunistischen Partei der Kuomintang als Ganzes, ohne eine Agitation, derselben in den Massen für die Sowjets und für die Sowjetmacht, ohne eine selbständige Mobilisierung der Massen unter den Parolen der Agrarrevolution und der nationalen Befreiung, ohne eine Schaffung, Erweiterung und Befestigung der lokalen Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauerndelegierten, musste der Aufstand Ho-Lungs und Ye-Tings sogar ganz abgesehen von der opportunistischen Politik derselben, ein isoliertes Abenteuer, eine pseudokommunistische Machnowiade bleiben, und an der eigenen Isolierung zerschellen. Und er ist auch zerschellt. Der Kantoner Umsturz war eine Wiederholung und Vertiefung des Abenteuers Ho-Lungs und Ye-Tings, nur mit ungleich tragischeren Folgen.

Die Februarresolution des EKKI bekämpft die putschistischen Stimmungen in der chinesischen Kommunistischen Partei, d.h. also die Begünstigung der Tendenzen zu bewaffneten Handstreichen. Sie spricht aber nicht davon, dass diese Tendenzen eine Reaktion auf die opportunistische Politik der Jahre 1925/27 darstellen und eine unausbleibliche Folge des von oben erteilten rein militärischen Befehls zum „Schrittwechsel“ sind, der ohne jede Berücksichtigung des bisher Geschehenen, ohne eine offene Umwertung der Grundlagen der Taktik und ohne eine klare Perspektive gegeben worden ist. Der Feldzug Ho-Lungs und der Kantoner Umsturz sind unter solchen Umständen nichts anderes als Ableger der begünstigten Putschaktionen.

Ein wirkliches Gegengift gegen den Putschismus, wie gegen den Opportunismus kann nur das klare Erfassen jener Wahrheit sein, dass die Führung des bewaffneten Aufstandes der Arbeiter und armen Bauern, die Machtergreifung und die Errichtung der proletarischen Diktatur, von nun an mit ihrer ganzen Schwere auf der Kommunistischen Partei Chinas liegt. Wenn die Kommunistische Partei von dem Verständnis dieser Perspektive durchdrungen sein wird, wird sie ebenso wenig Neigung zu improvisierten militärischen Handstreichen gegen Städte, oder zu bewaffneten Aufständen in einer Falle, wie zu einem unterwürfigen Herlaufen hinter der Fahne des Feindes verspüren.

Die Resolution des EKKI verurteilt sich selbst schon allein dadurch zu völliger Fruchtlosigkeit, indem sie zu abstrakt über die Unzulässigkeit des Überspringens von Etappen und über die Schädlichkeit des Putschismus spricht und dabei den klassenmäßigen Inhalt des Kantoner Umsturzes und des durch diesen geborenen kurzfristigen Sowjetregimes vollständig umgeht. Wir Oppositionelle sind der Ansicht, dass dieser Umsturz ein Abenteuer der Führung war, das zur Rettung ihres „Prestiges“ angezettelt worden ist. Allein, es ist für uns klar, dass sich auch ein Abenteuer nach den durch die Struktur des Gesellschaftsmilieu bestimmten Gesetzen entwickeln muss. Deshalb suchen wir in dem Kantoner Aufstand Züge der zukünftigen Etappe der chinesischen Revolution. Diese Züge fallen vollständig mit unserer theoretischen Analyse zusammen, die vor dem Kantoner Aufstand gezogen worden ist. Um wie viel mehr wäre es aber eine Pflicht des EKKI gewesen, das doch dem Kantoner Aufstand für ein richtiges gesetzmäßiges Glied in der Kette der Kämpfe hielt, eine klassenmäßige Charakteristik des Kantoner Umsturzes zu geben. Allein, davon steht in der Resolution kein Wort, obwohl das Plenum unmittelbar nach den Kantoner Ereignissen getagt hat. Ist das nicht etwa der überzeugendste Beweis dafür, dass die gegenwärtige Leitung der Komintern hartnäckig auf ihrer falschen Linie beharrt, und sich jetzt genötigt sieht, sich mit angeblichen Fehlern des Jahres 1905 und anderer Jahre durchzufristen. Sie kann sich nicht entschließen, an dem Kantoner Umsturz des Jahres 1927 heranzugehen, dessen Sinn das ganze Schema der Revolution im Osten, das der Programmentwurf bringt, vollständig über den Haufen wirft.

 

 

5. Die Sowjets und die Revolution

Das EKKI machte in seiner Februarresolution den Vertreter der Komintern „Gen. N.B. und andere“ dafür verantwortlich, dass „in Kanton ein gewählter Sowjet als ein Organ des Aufstandes gefehlt hatte“ (Fettdruck in der Resolution), in Wirklichkeit besitzen wir in dieser Beschuldigung ein ganz erstaunliches Eingeständnis.

In dem Bericht der Prawda (Nr.31), der unmittelbar auf Grund von Dokumenten verfasst worden war, hieß es, dass in Kanton die Sowjetmacht errichtet worden ist. Doch davon, dass der Kantoner Sowjet kein Gewählter war, also kein Sowjet war – denn, wie kann es einen nichtgewählten Sowjet geben? –, stand darin kein Wort. Wir erfahren davon zum ersten Male in der Resolution. Lasst uns den Sinn dieser Tatsache untersuchen. Erst für den bewaffneten Aufstand, auf keinen Fall früher, so lehrt das EKKI, ist ein Sowjet erforderlich. Und nun, da der Aufstand angesetzt ist, fehlt der Sowjet. Einen gewählten Sowjet bilden ist nämlich keine so einfache Sache. Die Massen müssen erst aus der Erfahrung kennen, was Sowjets überhaupt sind. Damit sie diese Form erfassen, müssten sie erst in ihrer Vergangenheit an gewählte Sowjetorganisationen gewöhnt werden. Davon war aber in China keine Rede, denn die Parole der Sowjets wurde gerade in jener Periode, in der sie zum Nerv der gesamten Bewegung werden musste, zu einer trotzkistischen erklärt. Als man aber in aller Eile, um die eigenen Niederlagen zu überspringen, einen Aufstand ansetzte, musste man gleichzeitig auch einen Sowjet ansetzen. Wenn man diesen Fehler nicht bis zur Wurzel aufdeckt, könnte man auch die Parole der Sowjets leicht zu einer Schlinge für die Revolution machen. Lenin erklärte seinerzeit den Menschewiki, dass die grundsätzliche historische Aufgabe der Sowjets darin bestehe, die Machtergreifung zu organisieren, oder die Organisierung derselben zu unterstützen, um am nächsten Tage nach dem Siege zum Apparat dieser Macht zu werden. Die Epigonen – keine Schüler, sondern Epigonen – ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass es nur dann zulässig sei, Sowjets zu organisieren, wenn die zwölfte Stunde des Aufstandes bereits schlägt. Aus den allgemeinen Grundsätzen Lenins machen sie hinterher ein kurzes Rezept, das nicht dem Wohle der Revolution, wohl aber deren Untergange dient.

Bevor die bolschewistischen Sowjets im Oktober 1917 die Macht erobert hatten, haben bereits neun Monate, sozialrevolutionär-menschewistische Sowjets bestanden. Zwölf Jahre vorher gab es bereits die ersten revolutionären Sowjets in Petersburg, Moskau und einigen Dutzend anderen Städten. Bevor die Sowjets groß die Fabriken und Betriebe der Hauptstadt erfasst hatten, war in Moskau während des Streiks bereits ein Sowjet der Druckereidelegierten entstanden. Und auch schon einige Monate vor dem, im Mai 1905, war während des Massenstreiks in Iwanowo-Wosnesensk ein leitendes Organ entstanden, das bereits die Grundzüge eines Delegiertensowjets trug. Zwischen dem ersten Versuch der Bildung eines Delegiertensowjets und dem gigantischen Versuch der Bildung einer Sowjetmacht waren über zwölf Jahre verstrichen. Gewiss ist diese Frist für andere Länder, darunter auch China nicht unbedingt notwendig. Doch zu glauben, dass die chinesischen Arbeiter die Sowjets nach einem kurzen Rezept, das die allgemeinen Grundsätze Lenins ersetzen soll, aufbauen können, würde bedeuten, dass man an Stelle der Dialektik der revolutionären Tat, kraftlose und aufdringliche Erlasse setzen würde. Man soll die Sowjets nicht am Vorabend des Aufstandes unter der unmittelbaren Parole der Machtergreifung bilden, denn wenn es bereits bis zur Machtergreifung gekommen ist, wenn die Massen zur Revolutionohne die Sowjets vorbereitet sind, dann bedeutet das, dass es andere organisatorische Formen und Methoden gegeben hat, welche die Durchführung der den Erfolg des Aufstandes sichernden Vorbereitungsarbeit ermöglichten. In einem solchen Falle bekommt die Frage der Sowjets nur eine nebensächliche Bedeutung. Sie wird zu einer Frage der Organisationstechnik, oder noch weniger, des Namens. Die Aufgabe der Sowjets besteht nicht einfach nur darin, zum Aufstand aufzurufen und ihn durchzuführen, sondern darin, die Massen über die notwendigen Etappen bis zum Aufstand heranzuführen. Am Anfang umfassen die Sowjets die Massen ganz und gar nicht unter der Parole des bewaffneten Aufstandes, sondern unter den verschiedensten Teilparolen, um erst im weiteren Verlauf Schritt für Schritt die Massen an diese Parole heranzuführen, ohne sie unterwegs zu verlieren, oder die Avantgarde von ihrer Klasse loszureißen. Ein Sowjet entsteht zu allererst und am häufigsten bei Streikbewegungen, die eine revolutionäre Entwicklungsmöglichkeit haben, sich aber im Augenblick nur auf rein wirtschaftliche Forderungen beschränken. Die Masse muss bei der Aktion fühlen und begreifen, dass der Sowjet ihre Organisation ist, dass er ihre Kräfte zum Kampfe zur Abwehr, zur Selbstverteidigung und zum Angriff sammelt. Sie kann das fühlen und begreifen, nicht bei einer alltäglichen oder überhaupt einmaligen Handlung, sondern durch die Erfahrung einer ganzen Reihe von Wochen, Monaten und vielleicht auch Jahren mit oder ohne Unterbrechungen. Deshalb kann nur eine bürokratische Epigonenführung, eine erwachende und sich erhebende Masse von der Bildung der Sowjets zurückhalten, wenn das Land bereits eine Epoche revolutionärer Erschütterungen durchläuft, und wenn sich vor der Arbeiterklasse und der Dorfarmut die Perspektive der Machtergreifung eröffnet. Selbst wenn das erst bei einer der nächsten Etappen eintreten würde, und wenn diese Perspektive in der gegenwärtigen Etappe nur für eine kleine Minderheit verständlich wäre. So haben wir die Sowjets stets verstanden. Wir schätzen die Sowjets als jene breite und elastische Organisationsform, die bereits für eine kaum erwachte Masse in der ersten Etappe verständlich ist und die fähig ist, die Arbeiterklasse als Ganzes zu vereinigen, unabhängig davon, welcher Teil derselben in dem gegenwärtigen Stadium bereits bis zum Verständnis der Aufgabe der Machtergreifung herangereift ist.

Braucht man da überhaupt noch dokumentarische Beweise? Lenin hat z.B. folgendes über die Sowjets in der Epoche der ersten Revolution geschrieben:

„Die SDAPR (die damalige Bezeichnung der Partei – L.T.) hat niemals darauf verzichtet.rh Augenblick eines größeren oder geringeren Aufschwungs bestimmte parteilose Organisationen wie die Sowjets der Arbeiterdeputierten auszunutzen, um den Einfluss der Sozialdemokratie in der Arbeiterklasse zu stärken und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zu festigen.“ (Lenin, Resolutionsentwürfe zum fünften Parteitag der SDAPR, Februar 1907, Lenin, Werke, Band 12, S.125-136, hier S.135, Hervorhebung von L.T.)

Derartige historische Zeugnisse aus der Literatur könnte man zahllos anführen. Doch, wie ich denke, ist die Frage auch so klar genug. Im Gegensatz dazu haben die Epigonen, die Sowjets zu einer Art organisatorischer Paradeuniform verwandelt, die die Partei dem Proletariat am Vorabend der Machtergreifung ganz einfach überziehen soll. Es hat sich aber gezeigt, dass man die Sowjets nicht innerhalb 24 Stunden nach Bestellung unmittelbar für die Zwecke eines bewaffneten Aufstandes improvisieren kann. Derartige Experimente müssen unfehlbar den Charakter einer Fiktion tragen, um durch die äußerliche Zeremonie des Sowjetsystems, das Fehlen der notwendigen Vorbedingungen zur Machtergreifung zu maskieren. So ist es auch in Kanton gewesen, wo der Sowjet, um den Ritual zu wahren, ganz einfach bestimmt wurde. Soweit kann die Fragestellung der Epigonen führen


In der Polemik über die chinesischen Ereignisse ist der Opposition ein angeblich schreiender Widerspruch vorgeworfen worden, und zwar, sie habe für China die Parole der Sowjets propagiert, während sie 1923 gegen eine Aufstellung der Sowjetparole in Deutschland gewesen sei. Die Scholastik des politischen Denkens hätte gar nicht krasser zutage treten können, als durch eine solche Beschuldigung. Jawohl, wir hatten in China eine rechtzeitige Inangriffnahme der Organisierung von Sowjets, als selbständige Organisationen während der ansteigenden Welle gefordert. Die Hauptbedeutung dieser Sowjets hätte in der Gegenüberstellung der Arbeiter und Bauer gegenüber der Bourgeoisie der Kuomintang und der Agentur der letzteren, der linken Kuomintang gelegen. Die Parole der Sowjets hätte in China vor allen Dingen den Bruch mit dem selbstmörderischen „Block der vier Klassen“ und den Austritt der Kommunistischen Partei aus der Kuomintang bedeutet. Der Schwerpunkt war also nicht in der bloßen organisatorischen Form, sondern in dem Klasseninhalt derselben gelegen.

In Deutschland dagegen war im Herbst 1923 nur von der organisatorischen Form die Rede. Wegen der äußersten Passivität der Führung der Komintern und der KPD wurde der rechtzeitige Augenblick zur Bildung von Sowjets versäumt. Unter dem Drucke von unten haben die Betriebsräte von selbst jene Stelle im Herbst 1923 eingenommen, die bei einer richtigen und kühnen Politik der Kommunistischen Partei zweifellos mit viel mehr Erfolg die Sowjets eingenommen hätten. Die Situation hatte unterdessen den Höhepunkt erreicht. Dabei Zeit versäumen, heißt die revolutionäre Situation endgültig versäumen. Endlich wurde der Aufstand mit der kürzesten Frist auf die Tagesordnung gesetzt. Unter solchen Bedingungen die Parole der Sowjets aufzustellen, wäre die größte doktrinäre Dummheit gewesen, die man sich überhaupt vorstellen kann. Sowjets sind kein Talisman der in sich selbst schon die rettende Kraft enthält. In der gegebenen Situation Sowjets zu organisieren, hieße nur die Betriebsräte verdoppeln. Es würde erst erforderlich sein, den Betriebsräten ihre revolutionären Funktionen wegzunehmen und diese den eben erst geschaffenen und darum keinerlei Autorität besitzenden Sowjets zu übertragen. Und das zu einer Zeit, wo jeder Tag zählte. Das hieße wirklich die revolutionäre Sache durch schädliches organisatorisches Murmelspiel zu ersetzen.

Gewiss ist es unbestreitbar, dass die organisatorische Form der Sowjets eine große Bedeutung besitzt. Dies aber nur dann, wenn sie den rechtzeitigen Ausdruck einer richtigen politischen Linie bildet. Und umgekehrt kann sie auch eine eben solch negative Bedeutung besitzen, nämlich dann, wenn sie nur zu einer Fiktion, zu einem Talisman, zu einer leeren Form wird. Eine Bildung von deutschen Sowjets im letzten Augenblick im Herbst 1923 hätte politisch nichts gebracht und nur eine organisatorische Verwirrung hineingetragen. Noch schlimmer lag der Fall in Kanton. Die in aller Eile – aus Ritualgründen – dort gebildeten Sowjets sollten nur den abenteurerischen Putsch maskieren. Darum erfahren wir auch jetzt nachträglich, dass der Kantoner Sowjet, dem alten chinesischen Drachen sehr ähnlich war, d.h. dass er nur auf das Papier gemalt war. Eine Politik der verfaulten Stricke und Papierdrachen – das ist nicht unsere Politik. Wir waren gegen eine Bildung von improvisierten Sowjets auf telegraphischem Wege in Deutschland im September 1923. Wir waren für die Bildung der Sowjets in China im Jahre 1926. Wir waren gegen die Bildung eines Maskeradensowjets in Kanton im Dezember 1927. Hier sind keine Widersprüche, hier ist nur ein tiefes einheitliches Erfassen der Dynamik der revolutionären Bewegung und ihrer organisatorischen Formen.

Die Frage der Rolle und Bedeutung der Sowjets, die durch die Theorie und Praxis der letzten Jahre verdunkelt worden ist, erfährt im Programmentwurf absolut keine ernste Beachtung.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008