Leo Trotzki

 

Mein Leben


Bücher und erste Konflikte

Natur und Menschen nahmen nicht nur in den Schuljahren, sondern auch in der späteren Jugend in meinem geistigen Leben einen kleineren Platz ein als Bücher und Denken. Trotz meiner ländlichen Abstammung hatte ich kein Gefühl für die Natur. Die Aufmerksamkeit und das Verständnis für sie habe ich viel später in mir entwickelt, nachdem nicht nur die Kindheit, sondern auch der erste Teil meiner Jugend hinper mir lag. Die Menschen streiften lange durch mein Bewußtsein wie zufällige Schatten. Ich blickte in mich selbst oder in die Bücher, wo ich wiederum nur mich oder meine Zukunft suchte.

Ich begann mit dem Lesen im Jahre 1887, als Moissej Filippowitsch nach Janowka kam und ein Paket Bücher mitbrachte, unter denen die Volkserzählungen von Tolstoi waren. In die Bücher sich hineinzulesen war in der ersten Zeit weniger süß als mühselig. Jedes neue Buch brachte neue Hindernisse: unbekannte Worte, unverständliche Lebensbeziehungen, schimmernde Grenzen zwischen Realität und Phantastik. Es gab gewöhnlich keinen, an den ich mich um eine Erklärung wenden konnte. Ich wurde verwirrt, begann wieder, stellte es wieder ein und begann wieder von neuem, wobei sich unklare Freude der Erkenntnis mit einer Angst vor dem Unbekannten vermischte. Man kann mein damaliges Lesen vielleicht am besten mit dem nächtlichen Fahren über die Steppenwege vergleichen: man hört das Knarren der Räder, sich kreuzende Stimmen, Scheiterhaufen am Wege treten aus der Dunkelheit hervor – alles erscheint so vertraut, gleichzeitig jedoch unbegreiflich: was geschieht da, wer fährt da und zu welchem Zwecke; es ist sogar unklar, wohin du selbst fährst, vorwärts oder rückwärts. Aber beim Lesen ist niemand da, der dir, wie der Onkel Grigorij in der Steppe, erklärt, unsere Fuhrleute fahren den Weizen.

In Odessa war die Auswahl der Bücher unvergleichbar größer, sie geschah auch unter aufmerksamer, wohlwollender Leitung. Ich begann, gierig zu lesen. Zum Spazierengehen mußte man mich losreißen. Unterwegs erlebte ich das Gelesene, eilte zum Buche zurück. Abends, vor dem Schlafengehen, flehte ich, mir eine Viertelstunde länger zu bewilligen, mindestens aber fünf Minuten, um das Kapitel zu beenden. Jeden Abend gab es deshalb einen Wortwechsel.

Die erwachende Sehnsucht, zu sehen, zu wissen, zu bewältigen, suchte einen Ausweg in dem unermüdlichen Verschlingen gedruckter Zeilen, in den dem Born der Worterfindung stets zugewandten kindlichen Händen und Lippen. Alles, was im ferneren Leben an Interessantem, Hinreißendem, Freudigem oder Traurigem geschah, war schon in den Erlebnissen der Lektüre als Schatten, als Versprechen, als leichte Bleistiftskizze oder Aquarell enthalten gewesen.

Das abendliche Vorlesen in den ersten Jahren meines Lebens in Odessa zwischen dem Ende der Tagesarbeit und dem Schlaf gehörte zu den schönsten Stunden oder richtiger Halbstunden. Moissej Filippowitsch las meistens Puschkin und Nekrassow vor, häufiger den letzteren. Aber zur festgesetzten Stunde sagte Fanni Solomonowna: „Es ist Zeit für dich, Ljowuschka, schlafen zu gehen.“ Ich sah sie flehend an. „Man muß schlafen gehen, Junge“, bekräftigte Moissej Filippowitsch. „Noch fünf Minuten“, bat ich. Die bewilligte man mir. Dann nahm ich mit einem Kuß Abschied und ging mit dem Gefühl, ich hätte die ganze Nacht zuhören mögen, schlief aber ein, kaum daß mein Kopf das Kissen berührt hatte.

Eine Gymnasiastin der achten Klasse, Sophie, eine entfernte Verwandte, kam für einige Wochen in das Haus Spenzer, um einen Scharlachfall in ihrer eigenen Familie abzuwarten. Es war ein sehr befähigtes und belesenes Mädchen, dem allerdings Originalität und Charakter mangelte und das später bald verblühte. Ich war von ihr begeistert, entdeckte bei ihr täglich neue Kenntnisse und Qualitäten und fühlte in ihrer Gegenwart meine eigene Nichtigkeit. Ich schrieb ihr das Programm für die Prüfung ab und erwies ihr eine Reihe anderer Dienste. Dafür las mir die Gymnasiastin in den Nachmittagsstunden, wenn sich alle zur Ruhe begeben hatten, vor, und wir verfaßten zusammen ein satirisches Poem in Versen: Eine Reise auf den Mond. Bei dieser Arbeit verlor ich dauernd das Tempo. Ich brauchte nur einen bescheidenen Vorschlag zu äußern, schon griff meine ältere Mitarbeiterin meinen Gedanken auf, entwickelte ihn schnell weiter, brachte verschiedene Varianten hinein, fand leicht die Reime und nahm mich ins Schlepptau. Als die für die Quarantäne vorgesehenen sechs Wochen vergangen waren und Sophie heimkehrte, fühlte ich mich erwachsener.

Zu den bemerkenswerteren Bekannten der Familie Spenzer gehörte Sergej Iwanowitsch Sytschewski, ein alter Journalist, Romantiker und im Süden bekannter Shakespeare-Interpret. Das war ein sehr begabter, aber versoffener Mensch. Weil er viel trank, stand er zu Menschen und sogar zu Kindern in einem Gefühl des Schuldbewußtseins. Er hatte Fanni Solomonowna seit deren Kindheit gekannt und nannte sie Fanjuschka. Sergej Iwanowitsch hatte mich vom ersten Tage an sehr liebgewonnen. Nachdem er mich ausgefragt, was wir in der Schule durchgenommen hätten, gab mir der Alte das Thema auf: zu vergleichen Poet und Buchhändler von Puschkin mit Poet und Bürger von Nekrassow. Ich erstarrte. Das zweite Werk kannte ich nicht einmal. Aber hauptsächlich hatte ich vor Sytschewski als vor dem Schriftsteller Angst. Allein schon dieses Wort klang für mich wie aus einer unerreichbaren Höhe. „Warte, wir wollen das gleich alles vorlesen“, sagte Sergej Iwanowitsch und las nun vor; er las sehr schön. „Nun, hast du verstanden? Jetzt also schreibe es nieder.“ Man brachte mich in das Arbeitszimmer, gab mir Puschkin und Nekrassow, Tinte und Papier. „Ich kann nicht“, beschwor ich Fanni Solomonowna mit tragischem Flüstern, „was soll ich da schreiben?“ „Sei nur nicht aufgeregt“, antwortete sie und streichelte mir über den Kopf, „schreibe ruhig auf, so einfach, wie du es verstanden hast.“ Sie hatte eine zärtliche Hand und eine zärtliche Stimme. Ich beruhigte mich ein wenig, das heißt, ich beruhigte meinen verängstigten Ehrgeiz und begann zu schreiben. Nach etwa einer Stunde rief man mich. Ich trug eine große, voll beschriebene Seite mit einem solchen Schauer, wie ich ihn niemals in der Schule verspürt hatte; ich uberreichte sie dem Schriftsteller. Sergej Iwanowitsch durchlief mit den Augen einige Zeilen, dann spritzten helle Funken aus seinen Blicken, und er rief: „Nein, hört nur, was er geschrieben hat, ein braver Kerl ...“ Er las laut: „Der Dichter lebte mit der von ihm geliebten Natur, und jeder ihrer Laute, der freudige wie der traurige, fand Widerhall in seiner Seele.“ Sergej Iwanowitsch hob einen Finger hoch. „Wie herrlich er es gesagt hat, jeder ihrer Laute, der freudige wie der traurige, fand Widerhall in der Seelö des Poeten.“ Diese Worte drangen mir so tief ins Herz, daß ich sie für immer behalten habe.

Beim Mittagessen scherzte Sergej Iwanowitsch viel, gab Erinnerungen zum besten und erzählte, durch ein Gläschen angeregt. Wodka stand für ihn stets bereit. Von Zeit zu Zeit blickte er mich über den Tisch an und rief: „Nein, wie hast du das alles so schön hingeschrieben, ich muß dir dafür einen Kuß geben.“ Er wischte sich sorgfältig Mund und Schnurrbart mit der Serviette, erhob sich vom Stuhl und machte mit unsicheren Schritten einen Bogen um den Tisch. Ich saß wie unter den Schlägen einer Katastrophe, wenn auch einer freudigen Katastrophe. „Steh auf, Ljowotschka, geh ihm entgegen“, belehrte mich leise Moissej Filippowitsch. Nach dem Essen rezitierte Sergej Iwanowitsch aus dem Gedächtnis die Satire Popows Traum. Mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete ich den grauen Schnurrbart, aus dem solche drolligen Worte hervorkamen. Der halb trunkene Zustand des Schriftstellers setzte seine Autorität in meinen Augen nicht im geringsten herab. Kinder besitzen eine große Kraft zum Abstrahieren.

Manchmal, bevor es dämmerte, ging Moissej Filippowitsch mit mir spazieren. War er guter Stimmung, dann unterhielt er sich mit mir über alles mögliche. Einmal erzählte er mir den Inhalt der Oper Faust, die er sehr liebte. Ich lauschte gierig seinen Worten und träumte davon, einmal selbst diese Oper von der Bühne hören zu können. Aus der Stimme des Erzählers begriff ich, daß die Sache sich irgendeinem heiklen Punkt näherte. Ich teilte die Erregung des Sprechers und fürchtete, die Fortsetzung nicht zu erfahren. Aber Moissej Filippowitsch faßte sich und führ fort: „Nun gebar Gretchen ein Kindlein vor der Ehe ...“ Als wir die schwierige Klippe überwunden hatten, fühlten wir uns erleichtert und die Erzählung konnte ruhig zu Ende geführt werden.

Ich lag mit einem verbundenen Hals, und man gab mir zum Trost Dickens Oliver Twist. Der Satz des Arztes im Entbindungsheim darüber, daß die Frau keinen Ehering auf dem Finger habe, verwirrte mich. „Was bedeutet das?“ fragte ich Moissej Filippowitsch, „was hat das mit einem Ring zu tun?“ „Das heißt“, erklärte er mir verlegen, „wenn man nicht verheiratet ist, hat man keinen Ehering.“ Ich erinnerte mich an Gretchen. Das Schicksal Oliver Twists entfaltete sich in meiner Vorstellung aus einem Ring, aus jenem Ring, den es nicht gab. Die verbotene Welt in den menschlichen Beziehungen drang aus den Büchern stoßweise in mein Bewußtsein; und vieles bereits früher und meist in grober und unwürdiger Form zufällig Vernommene wurde jetzt durch die Literatur verallgemeinert und veredelt, gleichsam in eine höhere Sphäre gerückt.

In jener Zeit erregte die damals erschienene Macht der Finsternis von Tolstoi die Gemüter. Man sprach davon vielsagend, erging sich in Urteilen. Pobedonoszew hatte erreicht, daß Alexander III. den Theatern die Aufführung des Stückes verbot. Ich wußte, daß Moissej Filippowitsch und Fanni Solomonowna, wenn ich schlafen gegangen war, das Drama im Nebenzimmer lasen: ich hörte das Gemurmel der Stimmen. „Darf ich es lesen?“ fragte ich. „Nein, Teuerer, für dich ist es noch ein wenig zu früh“, wurde mir so kategorisch erklärt, daß ich nicht mehr darauf zurückkam. Aber ich entdeckte, daß das neue, dünne Büchlein auf dem mir vertrauten Sims erschien. Die Abwesenheit der Erwachsenen ausnutzend, hatte ich in einigen Tagen das Tolstoische Drama durchgelesen. Aber auf mich machte es lange nicht den Eindruck wie, allem Anschein nach, auf meine Erzieher. Die tragischsten Stellen, wie die Erwürgung des Kindes und die Gespräche über das Krachen der Knochen, nahm ich nicht als schreckliche Realität auf, sondern als eine Buchphantasie, als eine Erfindung für die Bühne, das heißt, ich habe es in Wirklichkeit überhaupt nicht aufgenommen.

Während der Ferien entdeckte ich zu Hause auf einem alten Schrank dicht unter der Decke ein vom älteren Bruder aus Jelissawetgrad mitgebrachtes kleines Büchlein. Als ich es aufschlug, hatte ich sofort das Gefühl, daß es etwas Ungewöhnliches und Geheimnisvolles enthalte. Es war der Prozeßbericht über einen Lustmord an einem kleinen Mädchen. Ich las das mit medizinischen und juristischen Details gespickte Buch in einem Zustand der Erregung, als wäre ich nachts in einen Wald geraten und irrte zwischen vom Monde phantastisch halbbeleuchteten Bäumen umher, ohne einen Ausweg zu finden. Aber dieser Eindruck zerstreute sich bald. Die menschliche und vor allem die kindliche Psyche hat ihre besonderen Puffer, Bremsen, Vorbeugungsklappen und Amortisatoren – ein umfangreiches und gut ausgearbeitetes System, das vor zu starken und unzeitgemäßen Erschütterungen schützt.

Ins Theater kam ich zum erstenmal, als ich noch die Vorschulklasse besuchte. Das war ungeheuerlich, und das läßt sich gar nicht beschreiben. Man hatte mich in Begleitung des Schuldieners Ongorij Cholod zu einer ukrainischen Vorstellung geschickt. Ich saß blaß wie Leinen – das hat dann Grigorij später Fanni Solomonowna berichtet – und war von einer Freude gequält, die ich kaum ertragen konnte. In den Pausen stand ich nicht vom Platze auf, um, Gott behüte, nichts zu versäumen. Zum Schluß kam ein lustiger Einakter zur Aufführung: Der Mieter mit der Posaune. Die Spannung des Dramas löste sich hier im stürmischen Lachen. Ich schüttelte mich auf meinem Platze, warf den Kopf nach hinten und bohrte die Augen dann wieder auf die Bühne. Zu Hause erzählte ich den Inhalt des Mieters mit der Posaune, fügte immer neue und neue Einzelheiten hinzu, um das gleiche Lachen hervorzurufen, wie das, das ich soeben erlebt hatte. Aber mit Schmerz mußte ich bemerken, daß ich mein Ziel nicht erreichte.

Nasar Stodolja hat dir wohl gar nicht gefallen?“ fragte Moissej Filippowitsch. Ich empfand diese Worte wie einen geheimen Vorwurf: ich erinnerte mich an die Leiden Nasars und sagte: „Doch, das war ganz besonders schön.“

Bevor ich in die dritte Klasse kam, verbrachte ich einige Zeit in der Sommerfrische in der Nähe von Odessa bei meinem Onkel und geriet dort in eine Liebhaberaufführung, in der ein Junge aus unserer Schule, Krugljakow, den Diener spielte. Das war ein schwachbrüstiger, sommersprossiger Knabe, mit klugen Augen, der sehr krank war. Ich hing mich an ihn mit ganzer Seele und flehte ihn an, mit mir ein Stück zu spielen. Es wurde Der geizige Ritter von Puschkin gewählt. Mir fiel die Rolle des Sohnes zu, Krugljakow die des Vaters. Ich unterwarf mich ganz seiner Führung und lernte tagelang die Puschkinschen Verse auswendig. Was war das für eine wonnevolle Aufregung! Aber bald brach alles zusammen: Krugljakows Eltern untersagten ihm seiner schlechten Gesundheit wegen, Theater zu spielen. Als der Unterricht begann, kam er nur während der ersten Wochen in die Schule. Ich wartete ihn jedesmal beim Ausgang ab, um auf dem Heimweg Gelegenheit zu haben, mit ihm literarische Gespräche zu führen. Krugljakow verschwand aber bald gänzlich. Ich erfuhr, er läge krank, und einige Monate später kam die Nachricht, er sei an Tuberkulose gestorben.

Der Zauber des Theaters beherrschte mich einige Jahre. Später wandte sich meine Leidenschaft der italienischen Oper zu, auf die Odessa sehr stolz war. In der sechsten Klasse gab ich eine Unterrkhtsstunde nur zu dem Zweck, um Geld für das Theater zu haben. Einige Monate war ich wortlos in die Koloratursopranistin verliebt, die den geheimnisvollen Namen Giuseppina Uget trug und mir vorübergehend vom Himmel auf die Bretter des Odessaer Theaters herabgestiegen zu sein schien.

Zeitungen sollte ich nicht lesen, doch herrschte in dieser Beziehung kein sehr strenges Regime, und allmählich eroberte ich mir das Recht auf die Zeitungslektüre, besonders des Feuilletons. Im Mittelpunkt des Interesses der Odessaer Presse stand das Theater, hauptsächlich die Oper, und die wichtigsten Gruppierungen der öffentlichen Meinungen lagen damals auf der Linie der Theaterleidenschaften. Nur auf diesem Gebiete war es den Zeitungen erlaubt, so etwas wie Temperament zu äußern.

In jenen Tagen stand besonders hoch der Stern des Feuilletonisten Doroschewitsch. Er wurde in kurzer Zeit der Beherrscher aller Gedanken, obwohl er über Lappalien, manchmal über pure Nichtigkeiten schrieb. Er war zweifellos ein Talent und öffnete in den ihrem Wesen nach harmlosen Feuilletons ein wenig das Ventil der von Selenoj dem Zweiten niedergehaltenen Stadt Odessa. Ungeduldig stürzte ich micht stets auf die Morgenzeitung und suchte die Unterschrift Doroschewitschs. In der Begeisterung für dessen Artikel trafen sich damals die gemäßigt liberalen Väter mit den Kindern, die noch keine Zeit gehabt hatten, unmäßig zu werden.

Die Liebe zum Wort begleitete mich seit meiner frühesten Jugend, bald abnehmend, bald wieder sich steigemd, im allgemeinen sich ständig festigend; Schriftsteller, Journalisten, Schauspieler bildeten für mich die anziehendste Welt, zu der nur die Auserwählten Zutritt hatten.

In der zweiten Klasse begannen wir, eine Zeitschrift herauszugeben. Ich beriet mich darüber lange mit Moissej Filippowitsch, der sogar den Namen erfand: Der Tropfen. Der Sinn des Namens sollte sein: die zweite Klasse der Realschule des hl. Paulus trägt ihren Tropfen bei zum Ozean der Literatur. Ich verfaßte über dieses Thema ein Gedicht, das die Aufgabe eines Programmartikeis erfüllte. In der Zeitschrift standen Verse und Erzählungen, die meisten ebenfalls von mir. Ein Zeichner schmückte den Umschlag mit einem komplizierten Ornament. Jemand schlug vor, den Tropfen Kryschanowski zu zeigen. Diese Mission übernahm der Schüler J., der bei Kryschanowski wohnte. Er entledigte sich seiner Aufgabe glanzvoll: stand von seinem Platze auf, ging an den Katheder heran, legte mit fester Hand den Tropfen darauf, verbeugte sich höflich und begab sich mit sicheren Schritten auf seinen Platz zurück. Alle erstarrten. Kryschanowski betrachtete den Umschlag, machte mit dem Schnurrbart, mit den Augenbrauen, mit dem Bart eine Grimasse und begann, für sich zu lesen. In der Klasse herrschte absolute Stille, nur die Seiten des Tropfens raschelten. Dann erhob sich Kryschanowski vom Katheder und las gefühlvoll meinen Reinen Tropfen vor. „Gut?“ fragte er. „Gut“, antwortete ein ziemlich einmütiger Chor. „Es ist schon gut“, sagte Kryschanowski, „aber der Autor weiß nicht, was Versmaß ist. Na, sag mal, weißt du, was Daktylen sind?“ wandte er sich an mich, den er hinter dem durchsichtigen Pseudonym erkannt hatte. „Nein, ich weiß es nicht“, gestand ich. „Nun, dann will ich es erklären,“ Während einiger Stunden Grammatik und Syntax beiseite schiebend, weihte Kryschanowski die Schüler der zweiten Klasse in die Geheimnisse des metrischen Versmaßes ein. „Und was die Zeitschrift betrifft“, sagte er schließlich, „so braucht es keine Zeitschrift zu sein – laßt auch den Ozean der Literatur in Ruhe – betrachtet es einfach als euer Übungsheft.“ Schülerzeitschriften waren nämlich verboten. Aber die Frage wurde in einer anderen Weise gelöst. Der friedliche Lauf meiner Schulbildung erlitt plötzlich eine Unterbrechung: ich wurde aus der Realschule des hl. Paulus ausgeschlossen.

 

Ich hatte seit meiner Kindheit im Leben nicht wenig Konflikte, die, wie der Jurist sagen würde, auf dem Boden des verletzten Rechtes entstanden. Dieses Motiv bestimmte häufig auch meine Annäherungen und mein Auseinandergehen mit den Kameraden. Es wäre zu umständlich, einzelne Episoden anzuführen. Es haben sich jedoch zwei Konflikte wichtigerer Art in der Schule ergeben.

Der größere Konflikt spielte sich in der zweiten Klasse mit Burnand ab, den man den Franzosen nannte, obwohl er Schweizer war. Die deutsche Sprache konkurrierte in der Schule bis zu einem gewissen Grade mit Russisch. Dagegen ging es mit Französisch schwer vorwärts. Die meisten Schüler lernten diese Sprache erst in der Schule kennen, und für die deutschen Kolonisten war Französisch besonders schwer. Burnand führte gegen die Deutschen einen erbitterten Kampf. Sein Lieblingsopfer war Wacker, der wirklich schlecht lernte. Aber in einem besonderen Falle hatten viele, wenn nicht alle, den Eindruck, Burnand habe Wacker unverdienterweise eine Eins gegeben. Burnand wütete an diesem Tag überhaupt und vertilgte die doppelte Ration Verdauungskonfekt „Wir wollen ihm ein Konzert bereiten“, flüsterten die Schüler unter Augenzwinkern und Ellenbogenanstoßen einander zu. Ich war nicht der Letzte dabei, vielleicht sogar der Erste. Solche Konzerte waren schon früher veranstaltet worden, besonders zu Ehren des Zeichenlehrers, der seiner bösartigen Dummheit wegen unbeliebt war. Ein Konzert veranstalten hieß, am Ende der Stunde, wenn der Lehrer zur Tür ging, ihn mit einstimmigem leisen Geheul hinauszubegleiten; man mußte dabei die Lippen geschlossen halten, damit je am Chor Beteiligten nicht entdeckt werden konnten. Etwa zweimal war auch Burnand so hinausbegleitet worden, allerdings mit ganz leisem Gesumm, da man ihn fürchtete. Diesmal sammelte man Mut. Kaum hatte der Franzose das Journal unter den Arm genommen, als auf der äußersten Flanke ein Geheul entstand, das sich bis zur letzten Bank am Ausgang ausdehnte. Ich meinerseits tat, was ich konnte. Burnand, der den Fuß schon über die Schwelle gestellt hatte, drehte sich plötzlich um, lief bis zur Mitte der Klasse und stand, grün im Gesicht, funkenstiebend aber wortlos, dem Feind Auge in Auge gegenüber. Die Knaben in den Bänken gaben sich ein möglichst harmloses Aussehen, besonders die in den ersten Reihen. Die hinteren Reihen machten sich an ihren Ranzen zu schaffen, als wäre nichts vorgefallen. Nachdem er eine halbe Minute so dagestanden, wandte er sich wie ein Besessener wieder der Tür zu, so daß die Schöße seines Frackes wie Segel flatterten. Dem Franzosen folgte jetzt ein einmütiges, hingerissenes Geheul, das ihn weit in den Korridor hinein begleitete.

Zu Beginn der nächsten Stunde erschienen in der Klasse: Burnand, Schwannebach und der Klassenaufseher Maier, den die Schüler unter sich Hammel nannten, wegen seiner Glotzaugen, festen Stirn und seines Stumpfsinns. Schwannebach hielt eine Art Einführungsrede, wobei er sorgfältig den unterirdischen Klippen der russischen Zeitwörter und Fälle auszuweichen bemüht war. Burnand atmete Rachegier. Maier suchte mit glotzenden Augen die Gesichter der Schüler ab, rief die Namen der als mutwillig bekannten auf und sagte zu jedem: „Du warst sicher dabei.“ Die einen protestierten leise, die anderen schwiegen. Auf diese Weise wurden insgesamt etwa fünfzehn Schüler der Klasse teils zu einer, teils zu zwei Stunden „Nachsitzen“ verurteilt. Die übrigen wurden entlassen, darunter auch ich, obgleich Burnand, wie mir schien, beim Aufrufen mich mit prüfenden Augen gemustert hatte. Ich hatte nichts unternommen um freizukommen. Hatte mich aber auch nicht angegeben. Ich verließ die Klasse eher mit Bedauern, denn es schien lustig, mit den anderen zusammen dazubleiben.

Am nächsten Morgen, als ich in die Schule kam – an die gestrige Geschichte hatte ich fast nicht mehr gedacht –, erwartete mich am Tor ein Mitschüler aus der Gruppe der Bestraften. „Hör mal, du wirst heute was erleben, gestern hat Dalinow dich bei Maier verpetzt, Maier ließ Burnand holen, dann kam der Direktor, sie forschten nach, ob du der Urheber seist. „

Mein Herz krampfte sich zusammen. Da kam auch schon der Klassenaufseher, Pjotr Pawlowitsch: „Gehen Sie zum Direktor.“ Daß der Klassenaufseher mich am Eingang erwartete und der Ton, in dem er sich an mich wandte, versprach nichts Gutes. Bei den Dienern mich nach dem Weg erkundigend, kam ich in einen mir unbekannten Korridor, wo sich das Zimmer des Direktors befand, und blieb dort an der Tür stehen. Der Direktor ging an mir vorbei, sah mich bedeutungsvoll an und schüttelte den Kopf. Ich stand da, mehr tot als lebendig. Wieder kam der Direktor heraus und warf ein „Gut, gut“ hin. Ich begriff, daß dieses „Gut, gut“ nichts Gutes bedeutete. Nach einigen Minuten verließen die Lehrer einer nach dem anderen das benachbarte Lehrerzimmer; die Mehrzahl eilte in ihre Klassen, ohne mich zu bemerken. Kryschanowski beantwortete meinen Gruß mit einer verschmitzten Grimasse, die sagen sollte: „Bist in eine schöne Geschichte hineingeraten, tust mir leid, aber es ist nicht zu ändern.“ Burnand dagegen schwenkte nach meinem höflichen Gruß dicht an mich heran, beugte sein böses Bärtchen über mich und sagte mit fuchtelnden Armen: „Der erste Schüler der zweiten Klasse ist ein moralisches Scheusal.“ Dann blieb er eine Weile stehen, berührte mich mit seinem unreinen Atem, wiederholte: „ein moralisches Scheusal“, drehte sich um und ging davon. Dann kam der Hammel heran: „Also eine solche Nummer bist du“, sagte er mit sichtbarem Vergnügen, „wir werden es dir schon zeigen.“ Dann begann für mich eine lange Folter. In meiner Klasse, wohin man mich nicht mehr ließ, gab es keinen Unterricht: dort fanden Verhöre statt. Burnand, der Direktor, Maier und der Inspektor Kaminski bildeten eine höhere Untersuchungskommission in Sachen des moralischen Scheusals.

Es hatte damit angefangen, daß einer der Schüler während des Nachsitzens zu Maier sagte: „Man läßt uns ganz ungerecht nachsitzen, wer geschrien hat, den hat man entlassen. B. hat die anderen aufgehetzt und hat selbst geschrien, ihn aber ließ man nach Hause gehen; hier, Karlson weiß es auch.“ „Unmöglich“, sagte Maier, „B. ist ein ordentlicher Junge.“ Aber Karlson, der mir Binnemann als den klügsten Mann von Odessa empfohlen hätte, bestätigte es, nach ihm noch einige andere. Nun ließ Maier Burnand holen. Von oben ermuntert und angefeuert, einander durch das Beispiel ansteckend, zeichneten sich in der Klasse zehn bis zwölf Schüler als Angeber aus.

Man erinnerte sich an alles: „B. hat im vorigen Jahr in der Pause das und das über den Direktor gesagt.“ „B. hat dem und dem vorgesagt.“ „B. hat an dem 'Konzert' gegen Smigrodski teilgenommen.“ Wacker, um den die ganze Geschichte entstanden war, erzählte rührselig: „Ich habe, wie man weiß, geweint, als mir Gustav Samojlowitsch die Eins gab, da kam B. an mich heran, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: 'Weine nicht, Wacker, wir wollen an den obersten Kreisschulrat einen solchen Brief schreiben, daß er Burnand wegjagen wird.'“ „Wem einen Brief schreiben?“ „Dem obersten Kreisschulrat.“ „Nicht möglich! Und was hast du gesagt?“ „Ich habe natürlich nichts gesagt.“ Danilow fiel ein: „Ja, ja, B. hat vorgeschlagen, an das Kreisschulamt einen Brief zu schreiben, aber ohne Unterschrift, damit man nicht ausgeschlossen werden kann. Jeder sollte unter den Brief nur einen Buchstaben setzen.“ „So, so“, keuchte Burnand vor Begeisterung: „jeder nur einen Buchstaben?“ Es wurden alle ohne Ausnahme verhört. Ein Teil der Schüler bestritt entschieden sowohl das, was nicht geschehen, wie auch das, was geschehen war Darunter auch Kostja R., der bitterlich weinte, als er zusehen mußte, wie man seinen besten Freund, den ersten Schüler, zu ertränken versuchte. Die hartnäckigen Leugner wurden von den Angebern als meine Freunde denunziert In der Klasse herrschte Panik. Die Mehrzahl schwieg verschlossen. Danilow spielte in der Klasse die erste Geige, was ihm weder früher noch später gelang. Ich stand im Korridor, neben dem Direktorzimmer, am gelben, polierten Schrank, wie ein schwerer Staatsverbrecher. Dorthin wurden die Ankläger einzeln zur Konfrontation mit dem Beschuldigten gerufen. Es endete damit, daß man mich nach Hause schickte. „Gehen Sie, und sagen Sie Ihren Eltern, sie sollen in die Anstalt kommen.“

„Meine Eltern wohnen weit, im Dorfe.“ „Dann sagen Sie es Ihren Erziehern.“

Noch gestern war ich der unbestritten erste Schüler, weit hinter mir kam der zweite. Sogar Maiers Zweifel reichten nicht an mich heran. Und heute bin ich gestürzt, und Dalinow, der durch Faulheit und Verdorbenheit berüchtigt ist, tritt mich vor der ganzen Klasse und der Schulbehörde mit Füßen. Was ist denn mein Verbrechen? Daß ich zu energisch für einen Beleidigten eingetreten bin, der mir weder nahe noch sympathisch ist? Daß ich mich zu sehr auf die Solidarität der Klasse verlassen habe? Mir war nicht nach Verallgemeinerungen zumute, als ich in die Pokrowskigasse zurückkehrte. Mit entstelltem Gesicht und ersterbendem Herzen, mich vor Worten und Tränen würgend, erzählte ich alles, wie es gekommen war. Meine Erzieher trösteten mich, so sehr sie konnten, obwohl sie selbst sehr erschrocken waren. Fanni Solomonowna ging zum Direktor, zum Inspektor Kryschanowski, zu Jurtschenko, versuchte zu erklären, zu überzeugen, berief sich auf ihre eigene pädagogische Erfahrung. Das alles geschah ohne mein Wissen. Ich saß zu Hause in meiner Ecke, der geschlossene Ranzen lag auf dem Tisch, ich war untröstlich. So vergingen Tage. Wie wird das enden? Der Direktor sagte, es werde eine Lehrerkonferenz einberufen werden, die die Frage in ihrem ganzen Umfange untersuchen solle. Das klang bedrohlich. Die Sitzung fand statt. Moissej Filippowitsch ging hin, sich nach dem Beschluß zu erkundigen. Ich wartete seine Rückkehr mit viel größerer Erregung ab als später das Urteil des zaristischen Gerichts. Unten schlug die Entreetür in bekannter Weise, die bekannten Schritte kamen die eisernen Stufen herauf, die Tür zum Eßzimmer wurde geöffnet, gleichzeitig kam Fanni Solomonowna aus dem anderen Zimmer Ich schob meinen Vorhang ganz wenig beiseite. „Ausgeschlossen“, sagte MoissejFflippowitsch mit müder Stimme. „Ausgeschlossen?“ wiederholte fragend Fanni Solomonowna atemringend. „Ausgeschlossen“, bestätigte Moissej Filippowitsch noch leiser. Ich sagte nichts. Ich sah Moissej Filippowitsch und Fanni Solomonowna an und kehrte hinter meinen Vorhang zurück. Im Sommer erzählte Fanni Solomonowna, die in den Ferien in Janowka auf Besuch war: „Als dieses Wort erklang, wurde er ganz grün, so daß ich um ihn Angst bekam.“ Ich weinte nicht, ich war von einer unbestimmten Unruhe erfüllt.

In der Lehrerkonferenz war um drei Formen des Ausschlusses gekämpft worden: ohne Berechtigung, überhaupt eine Anstalt zu besuchen; ohne Berechtigung, in die Realschule des hl. Paulus wieder einzutreten; und schließlich mit der Berechtigung, in diese Anstalt zurückzukehren. Man einigte sich auf die mildeste, dritte Formel. Mit Schauern dachte ich darüber nach, wie Vater und Mutter diese Geschichte aufnehmen würden. Meine Erzieher taten alles, was möglich war, um sie darauf vorzubereiten und den Schlag zu mildern. Fanni Solomonowna schrieb einen ausführlichen Brief an meine ältere Schwester und gab ihr Instruktionen, wie sie es den Eltern mitteilen solle. Ich blieb bis zum Ende des Schuljahres in Odessa und kam, wie immer, zu den Ferien nach Hause. An den langen Abenden, wenn Vater und Mutter schon schliefen, schilderte ich der Schwester und dem älteren Bruder, wie alles sich abgespielt hatte, und stellte dabei Schüler und Lehrer in Person dar. Bei dem Bruder und der Schwester waren noch deren eigene Schuljahre frisch in Erinnerung. Andererseits behandelten sie mich wie den „Jüngeren“. Bald schüttelten sie die Köpfe, bald lachten sie über meine Schilderung. Aus dem Lachen verfiel meine Schwester in Tränen und schluchzte lange, den Kopf auf den Tisch gelegt. Es wurde vereinbart, daß ich für eine bis zwei Wochen irgen wohin verreisen sollte, in meiner Abwesenheit würde die Schwester meinem Vater alles erzählen. Sie selbst hatte Angst bei diesem Gedanken. Nach dem Mißerfolg mit dem Studium des älteren Bruders hatte der Vater seinen ganzen Ehrgeiz auf mich konzentriert. Die ersten Jahre hatten einen vollen Erfolg versprochen, und nun ging alles bergab.

Als ich nach acht Tagen mit meinem Freund Grischa nach Hause zurückkehrte, wurde mir sofort klar, daß nun alles bekannt war. Die Mutter begrüßte Grischa freundlich und tat mir gegenüber so, als bemerkte sie mich überhaupt nicht. Der Vater dagegen behandelte mich, als wäre nichts geschehen. Erst einige Tage später, als er an einem heißen Tage vom Felde zurückgekehrt war und im kühlen Hausflur ausruhte, begann Vater in Gegenwart der Mutter plötzlich: „Na, sag mir mal, wie hast du denn eigentlich deinen Direktor ausgepfiffen? So: mit zwei Fingern im Munde?“ – er zeigte es und lachte. Die Mutter blickte verwundert bald auf den Vater, bald auf mich. Auf ihrem Gesicht kämpfte Lächeln mit Entrüstung: spricht man denn so leichtfertig von diesen schrecklichen Dingen? Doch der Vater setzte das Verhör fort: „Zeig doch, wie hast du gepfiffen?“ Er lachte immer lustiger. So sehr er auch betrübt war, so gefiel ihm offensichtlich doch der Gedanke, daß sein Sprößling, trotz seines Ranges als erster Schüler, es gewagt hatte, die hohe Behörde auszupfeifen. Vergeblich suchte ich ihn zu überzeugen, daß es sich nicht um Pfeifen, sondern um ganz friedliches Heulen gehandelt hatte. Der Vater blieb bei dem Pfeifen. Es endete damit, daß die Mutter zu weinen begann.

Auf das Examen bereitete ich mich im Sommer fast gar nicht vor. Das Vorgefallene hatte mir für eine Weile den Geschmack am Lernen genommen. Ich verbrachte einen unruhigen Sommer, mit dauerndem Aufbrausen und Gezänk, und kehrte zwei Wochen vor dem Examen nach Odessa zurück. Aber auch hier arbeitete ich lustlos. Am eifrigsten bereitete ich mich in Französisch vor. Bei der Prüfung beschränkte sich Burnand jedoch nur auf einige flüchtige Fragen. Die anderen Lehrer fragten noch weniger. Ich wurde in die dritte Klasse aufgenommen. Dort traf ich die Mehrzahl der Schüler, die mich verraten, verteidigt oder sich vorsichtigerweise abseits gehalten hatten. Das bestimmte die persönlichen Beziehungen für lange Zeit. Mit vielen sprach ich nicht und grüßte sie nicht, dagegen schloß ich mich jenen enger an, die im schwierigen Augenblick zu mir gehalten hatten.

Das war meine erste, gewissermaßen politische Prüfung. Die Gruppierung, die um diese Episode entstanden war: die Petzer und Neider auf der einen Seite, offene, tapfere Jungens auf der anderen und die neutrale, schwankende, haltlose Masse in der Mitte – diese drei Gruppierungen haben sich auch in der Folgezeit nicht völlig verloren. ich traf sie in meinem späteren Leben wiederholt unter den verschiedensten Umständen.

 

Der Schnee war von den Straßen noch nicht ganz entfernt worden, aber es war schon warm. Dächer, Bäume und Spatzen atmeten bereits Frühling. Der Schüler der vierten Klasse ging nach Hause und hielt, entgegen allen Regeln, einen Riemen des Ranzens in der Hand, weil der Haken abgerissen war. Den langen Mantel empfand er als etwas Überflüssiges, Unnötiges, Schweres; er versetzte den Körper in einen leichten Schweiß. Neben diesem Schweiß empfand der Knabe eine unbestimmte Sehnsucht. Er sah alles und vor allem sich selbst in einem neuen Lichte. Die Frühlingssonne ermahnte ihn, daß es etwas unermeßlich Gewaltigeres gäbe als Schule, Inspektor und unvorschriftsmäßig auf dem Rücken sitzender Ranzen, als Lernen, Schachspiel, Mittagessen und sogar Lesen und Theater, als das ganze alltägliche Leben überhaupt. Und die Sehnsucht nach diesem Unbekannten, Gebieterischen, das sich über den einzelnen Menschen erhebt, erfaßte das ganze Wesen des Knaben, drang in die Knochen ein und rief in ihm einen süßen Schmerz der Erschöpfung wach.

Heim kam er mit summendem Kopf und einer schmerzenden Musik in den Schläfen. Er warf den Ranzen auf den Tisch, legte sich aufs Bett und begann unmerklich für sich selbst ins Kissen zu weinen. Um für die Tränen eine Rechtfertigung zu finden, rief er sich traurige Sze nen aus Büchern und aus seinem eigenen Leben ins Gedächtnis zurück, gleichsam einen Heizkörper mit frischem Brennstoff versorgend, und weinte und weinte Tränen der Frühlingssehnsucht. Er stand damals im vierzehnten Lebensjahr.

Der Knabe litt seit seiner Kindheit an einer Krankheit, die die Ärzte in offiziellen Attesten einen chronischen Katarrh des Magen- und Darmweges nannten und die sich mit seinem ganzen Leben eng verflocht. Er war gezwungen, häufig Medizin zu schlucken und Diät zu halten. Jede nervöse Erschütterung äußerte sich am Darm. Als er in der vierten Klasse war, verschärfte sich die Krankheit derart, daß sie das Studium lahmlegte. Nach einer langen, erfolglosen Kur sprachen die Ärzte ihr Urteil: den Kranken aufs Land zu schicken.

Das Urteil der Ärzte nahm ich damals eher mit Befriedigung als mit Trauer auf. Es war aber noch nötig, die Zustimmung der Eltem zu erobern. Man mußte im Dorfe einen Repetitor ausfindig machen, um nicht ein Jahr zu verlieren. Das bedeutete Mehrausgaben, und Mehrausgaben waren in Janowka unbeliebt. Mit Hilfe von Moissej Filippowitsch wurde jedoch die Sache geordnet. Einen Repetitor fand man in der Person des ehemaligen Studenten G., eines kleinen Menschen mit üppiger Mähne, die an den Schläfen reichlich ergraut war. Es war ein etwas eitles, wie etwas phantastisches, gesprächiges und charakterloses Menschlein, mit halber Universitätsbildung, aus der Kategorie der Pechvögel. Er schrieb Verse, zwei davon hatte ein Odessaer Blatt sogar veröffentlicht. Beide Nummern der Zeitung trug er stets bei sich und zeigte sie gern. Seine Beziehungen zu mir waren von heftiger Art, mit steter Tendenz zur Verschlechterung. Anfangs benahm er sich mir gegenüber sehr familiär und betonte bei jedem Anlaß, daß er mein Freund sein wolle. Zu diesem Zweck zeigte er mir das Bild irgendeiner Claudia und sprach von seinem komplizierten Verhältnis zu ihr. Dann wurde er plötzlich zurückhaltend und verlangte von mir Respekt des Schülers für den Lehren. Dieses sinnlose Hinundher endete schlimm: mit einem stürmischen Streit und völligem Bruch. Aber auch die Episode mit dem Repetitor ging nicht spurlos vorüber. Immerhin hatte mich dieser Mann mit den ergrauten Schläfen in die Geheimnisse seiner Beziehungen zu einer Frau eingeweiht, die auf dem Bilde recht imposant aussah. Ich fühlte mich erwachsener.

In den oberen Klassen ging der Literaturunterricht von Kryschanowski auf Gamow über. Das war ein noch junger, schwammiger, sehr kurzsichtiger und kränklicher blonder Mensch ohne eine Spur von einem Feuerchen im Leibe und ohne Liebe für das Lehrfach. Gelangweilt trotteten wir hinter ihm her von Kapitel zu Kapitel. Gamow war dazu noch unpünktlich und verschleppte die Durchsicht unserer schriftlichen Arbeiten aufs äußerste. In der fünften Klasse galten vier schriftliche Aufsätze als obligatorisch. Für sie hatte ich eine wachsende Leidenschaft. Ich las nicht nur die Quellen, die der Lehrer angab, sondern außerdem noch eine Reihe anderer Bücher, notierte mir Tatsachen und Zitate, veränderte und verwandte Sätze, die mir gefielen, ich arbeitete überhaupt mit großer Hingabe, die nicht immer an der Grenze des harmlosen Plagiates stehenblieb. Es gab in der Klasse noch einige Schüler, die die Aufsätze nicht als lästige Pflicht empfanden. Mit größter Aufregung – die einen mit Sorge, die anderen voller Hoffnung – erwartete die fünfte Klasse die Zensurierung ihrer Arbeiten. Aber sie erfolgte nicht. Dasselbe wiederholte sich im zweiten Vierteljahr. Im dritten Viertel überreichte ich als Aufsatz ein ganzes Heft. Es vergingen zwei, drei Wochen – wir hörten nichts. Man erinnerte Gamow behutsam. Er gab eine ausweichende Antwort. In der nächsten Stunde fragte der Schüler Jablonowski, auch einer der eifrigsten Aufsatzschreiber, Gamow direkt: wie ist es zu erklären, daß wir das Schicksal unserer Aufsätze nicht erfahren können, was geschieht denn eigentlich mit ihnen? Gamow unterbrach ihn schroff. Jablonowski ließ nicht nach. Er zog seine zusammengewachsenen dichten Augenbrauen hoch, hantierte nervös an der Bank herum und wiederholte mit erhobener Stimme, daß man auf diese Weise nicht arbeiten könne. „Wollen Sie gefälligst schweigen und sich hinsetzen“, antwortete Gamow. Jablonowski aber setzte sich weder, noch schwieg er. „Machen Sie, daß sie aus der Klasse kommen“, schrie ihn Gamow an. Meine Beziehungen zu Jablonowski waren schon lange keine guten. Die Geschichte mit Burnand in der zweiten Klasse hatte mich Vorsicht gelehrt. Aber jetzt fühlte ich, daß man nicht schweigen dürfe. „Anton Michajlowitsch“, erklärte ich, „Jablonowski hat recht, wir unterstützen ihn alle.“ ... „Jawohl ...“, vernahm man nun auch andere Stimmen. Gamow wurde verwirrt, geriet aber dann in Raserei. „Was soll das bedeuten?“ heulte er auf, „ich weiß selbst, was ich zu tun habe ... Sie haben gar nichts zu bestimmen. Sie stören die Ordnung ...“ Er war am wundesten Punkte getroffen worden.

„Wir wollen unsere Aufsätze sehen, nichts weiter“, erhob sich ein Dritter.

Gamow war außer sich. „Jablonowski, verlassen Sie die Klasse.“ Jablonowski rührte sich nicht vom Platze. „Geh doch, geh, was ist denn schon dabei“, flüsterte man ihm von verschiedenen Seiten zu. Mit zuckenden Schultern, rollenden Augen und mit den Absätzen klopfend, ging Jablonowski aus der Klasse und warf die Tür laut hinter sich zu. Zu Beginn der nächsten Stunde erschien unhörbar auf seinen Gummiabsätzen Kaminski in der Klasse. Das versprach nichts Gutes. Es trat Stille ein. Mit heiserem, gleichsam versoffenem Falsett erließ der Direktor eine kurze, aber strenge Warnung, drohte mit Ausschluß und verkündete als Strafen: Jablonowski vierundzwanzig Stunden Karzer und eine Drei in der Führung, ich vierundzwanzig Stunden Karzer, der Dritte zwölf Stunden. Das war der zweite Stein auf meinem Unterrichtswege. Ernstere Folgen hatte die Sache diesmal nicht. Unsere Aufsätze gab uns Gamow nicht zurück. Wir verzichteten auf sie.

Im gleichen Jahr starb der Zar. Das Ereignis schien ungeheuer, sogar unwahrscheinlich, aber fern, etwa wie ein Erdbeben in einem fremden Lande. Mitleid mit dem kranken Zaren, Sympathie für ihn oder Schmerz um seinen Tod gab es weder bei mir noch in meiner Umgebung. Als ich am nächsten Tag in die Schule kam, herrschte dort so etwas wie eine große, grundlose Panik. „Der Zar ist gestorben“, erzählten die Schüler einander und wußten nicht, was noch hinzuzufügen wäre; sie fanden keinen Ausdruck für ihr Gefühl, denn es war ihnen unklar, worin es bestand. Dafür aber wußte man, daß es keinen Unterricht geben würde, und man freute sich im stillen, besonders jene, die ihre Aufgaben nicht gemacht hatten und fürchteten, aufgerufen zu werden. Alle ankommenden Schüler schickte der Diener in die Aula, wo Vorbereitungen für die Seelenmesse getroffen waren. Der Pope mit der goldenen Brille sagte einige Anstandsworte: Kinder sind untröstlich, wenn der Vater stirbt, wie groß muß der Schmerz sein, wenn der Vater des ganzen Volkes gestorben ist. Man empfand jedoch keinen Schmerz. Die Seelenmesse zog sich in die Länge. Das war ermüdend und langweilig. Es wurde allen befohlen, auf dem linken Ärmel Trauerkrepp zu tragen und die Kokarde an der Mütze damit zu umhüllen. Dann nahm alles seinen alten Lauf.

In der fünften Klasse fingen die Schüler schon an, Gedanken über die Hochschulen auszutauschen, über die Wahl des ferneren Lebensweges. Es wurde viel von der Wettbewerbprüfung gesprochen, und davon, daß die Petersburger Professoren so viele durchfallen ließen, knifflige Aufgaben stellten; was es für Spezialisten in Petersburg gäbe, die Prüfungskandidaten flügge zu machen. Es gab in der Stadt junge Menschen, die jahraus, jahrein nach Petersburg zur Wettbewerbpriifung reisten, durchfielen und sich wieder darauf vorbereiteten, um den gleichen Weg zu wiederholen. Bei dem Gedanken an die bevorstehende Schicksalsprüfung erstarrte manchem das Herz zwei Jahre vor der Zeit.

Die sechste Klasse verlief ohne Zwischenfälle. Alle wollten nur möglichst schnell das Joch der Schule abstreifen. Die Reifeprüfungen trugen einen feierlichen Charakter: sie fanden in der Aula statt, unter Beteiligung von Universitätsprofessoren, die das Lehrbezirksamt dazu entsandte. Der Direktor öffnete jedesmal feierlichst das vom Obersten Schulkreisamt eingetroffene Paket, das die Themen der schriftlichen Arbeit enthielt- Nach der Bekanntgabe wurde ein allgemeiner Stoßseufzer laut, als tauche man alle in kaItes Wasser. Vor nervöser Spannung schien es, die Aufgabe übersteige die Kräfte völlig. Aber dann zeigte es sich, daß es nicht gar so schlimm war. Am Ende der festgelegten zwei Stunden halfen uns die Lehrer, die Wachsamkeit des Schulkreisamtes zu täuschen. Als ich mit meiner Aufgabe fertig war, gab ich sie nicht ab, sondern blieb nach einer stillschweigenden Übereinkunft mit dem Inspektor Kryschanowski im Zimmer, um in eine lebhafte Korrespondenz mit jenen Schülern zu treten, bei denen in gewissen Fächern nicht alles wohlbestellt war.

Die siebente Klasse galt als Ergänzungsklasse. An der Schule des hl. Paulus gab es keine siebente Klasse – man mußte in eine andere Schule übergehen. In der Zwischenzeit waren wir freie Bürger. Jeder hatte sich für diesen Fall mit Zivilkleidung versehen. Am Abend des Tages, an dem wir unsere Zeugnisse bekommen hatten, saßen wir in einer großen Gruppe im Sommergarten, wo auf der Bühne Chansonetten auftraten und den Schülern der Zutritt strengstens untersagt war. Alle trugen Krawatten; auf dem Tisch standen zwei Flaschen Bier, im Munde steckte die Zigarette. Innerlich hatten wir vor unserer eigenen Tapferkeit Angst. Noch bevor wir die erste Flasche geöffnet hatten, erschien an unserem Tisch der Klassenaufseher Wilhelm, den man wegen seiner meckernden Stimme Ziege nannte. Wir machten eine instinktive Bewegung, um aufzustehen, und alle überlief ein leichter Schauer. Aber es passierte nichts. „Ihr seid schon hier?“ sagte Wilhelm mit einem Anflug von Wehmut und drückte uns gnädig die Hand. Der Älteste unter uns, K., mit einem Ring am kleinen Finger, lud den Aufseher ungeniert ein, mit uns ein Glas Bier zu trinken. Das war zu viel. Wilhelm lehnte würdevoll ab, verabschiedete sich eiligst und ging weiter, Schüler abzufangen, die die verbotene Schwelle des Gartens übertreten hatten. Mit verdoppeltem Selbstbewußtsein gingen wir an das Biertrinken.

Die sieben Jahre, die ich, die Vorschule mitgerechnet in der Realschule verbracht habe, entbehrten auch der Freuden nicht. Die waren aber weniger sichtbar als die Leiden. Im allgemeinen ist die Erinnerung an die Schule, wenn nicht in schwarze, so doch in graue Farben getaucht. Über allen Schulepisoden, den schmerzlichen wie den freudigen, erhob sich das Regime der Seelenlosigkeit und des bürokratischen Formalismus. Es ist schwer, auch nur einen Lehrer zu nennen, an den ich mich wirklich mit Liebe erinnern könnte. Dabei war unsere Schule nicht die schlechteste. Sie hat mich doch manches gelehrt: sie gab mir die elementaren Kenntnisse, die Gewohnheit zu systematischer Arbeit und die äußere Disziplin. Für das alles fand ich später Verwendung. Sie hat in mir außerdem, was nicht ihre direkte Aufgabe war, Samen der Feindschaft gegen das Bestehende gesät. Dieser Samen ist jedenfalls nicht auf einen Steinboden gefallen


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003