Leo Trotzki

 

Mein Leben


In New York

Ich bin in New York, in der märchenhaft prosaischen Stadt des kapitalistischen Automatismus, wo in den Straßen die ästhetische Theorie des Kubismus und in den Herzen die sittliche Philosophie des Dollars herrscht. New York imponiert mir, als der vollkommenste Ausdruck des Geistes der Gegenwartsepoche.

Die meisten Legenden, glaube ich, existieren über mein Leben in den Vereinigten Staaten. Wenn in Norwegen, wo ich nur auf der Durchreise war, erfinderische Journalisten berichteten, wie ich mit dem Reinigen des Stockfisches beschäftigt war, so erfand für mich die Presse in New York, wo ich zwei Monate verlebte, eine Reihe von Berufen, einer immer interessanter als der andere. Wollte man die von den Zeitungen mir zugeschriebenen Abenteuer alle sammeln, es würde wahrscheinlich eine viel unterhaltsamere Biographie entstehen als die, die ich hier gebe. Ich bin aber gezwungen, meine amerikanischen Leser zu enttäuschen. Mein einziger Beruf in New York war der Beruf eines revolutionären Sozialisten. Und da es vor dem „befreienden“ demokratischen Krieg war, so galt diese Profession damals in den Vereinigten Staaten noch nicht als verbrecherischer denn die Profession eines Alkoholschmugglers. Ich schrieb Artikel, redigierte eine Zeitung und trat in Arbeiterversammlungen auf. Ich war bis über die Ohren beschäftigt und fühlte mich in New York nicht fremd. In einer dortigen Bibliothek studierte ich fleißig das Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten. Die Zahlen des wachsenden amerikanischen Exportes während des Krieges verblüfften mich Sie waren für mich eine wirkliche Offenbarung. Diese Zahlen weissagten nicht nur die Einmischung Amerikas in den Krieg, sondern auch die ausschlaggebende Weltrolle der Vereinigten Staaten nach dem Krieg. Ich habe gleich damals über dies Thema eine Reihe Artikel geschrieben und einige Referate gehalten. Seit jener Zeit ist das Problem „Amerika und Europa“ für immer in den Kreis meiner Hauptinteressen getreten. Ich beschäftige mich auch jetzt eifrigst mit dieser Frage und hoffe, ihr ein Buch zu widmen. Um die zukünftigen Schicksale der Menschheit zu verstehen, gibt es kein wichtigeres Thema als dieses.

Am Tag nach meiner Ankunft schrieb ich in der russischen Zeitung Nowy Mir („Neue Welt“):

„Mit einem tiefen Glauben an die nahende Revolution habe ich das blutgetränkte Europa verlassen. Und ganz ohne ‚demokratische‘ Illusionen habe ich das Ufer dieser reichlich gealterten neuen Welt betreten.“

Und zehn Tage später sagte ich auf dem internationalen „Begrüßungsmeeting“: „Die bedeutendste ökonomische Tatsache besteht darin, daß Europa die Grundlagen seiner Wirtschaft ruiniert, während Amerika sich bereichert. Und indem ich New York mit Neid betrachte, frage ich, der ich noch nicht aufgehört habe, mich als Europäer zu fühlen, besorgt: Wird Europa es aushalten? Wird es sich nicht in einen Friedhof verwandeln? Und wird nicht das ökonomische und kulturelle Zentrum des Schwergewichts der Welt hierher, nach Amerika, verlegt werden?“ Trotz der Erfolge der sogenannten europäischen Stabilisation behält diese Frage auch heute ihre ganze Kraft.

Ich hielt Referate in russischer und deutscher Sprache in verschiedenen Teilen New Yorks, in Philadelphia und anderen benachbarten Städten. Mein Englisch war damals noch schwächer als heute, so daß ich nicht daran denken konnte, öffentlich in englischer Sprache aufzutreten. Ich fand dennoch nicht selten Hinweise auf meine englischen Reden in New York. (Erst vor wenigen Tagen hat mir der Redakteur eines Konstantinopeler Blattes eine meiner angeblichen Reden geschildert, der er als amerikanischer Student beigewohnt haben will. Ich muß gestehen: ich hatte nicht den Mut, ihm zu sagen, daß er ein Opfer seiner Einbildung sei. Mit um so größerer Sicherheit hat er seine Erinnerung in der Zeitung wiederholt.)

Wir mieteten eine Wohnung in einem Arbeiterviertel und nahmen Möbel auf Abzahlung. Die Wohnung für achtzehn Dollar im Monat war mit einem für europäische Begriffe unerhörten Komfort ausgestattet: elektrisches Licht, Gasofen, Badestube, Telephon, automatischer Aufzug für Lebensmittel und ein ebensolcher, um den Müllkasten hinunterzubefördern. Das alles hatte unsere Jungens sofort für New York eingenommen. Der Mittelpunkt ihres Lebens wurde für eine Weile das Telephon. Dieses kriegerische Instrument hatten wir weder in Wien noch in Paris gehabt.

Der Genitory (der Portier) unseres Hauses war ein Neger. Meine Frau bezahlte ihm die Miete für drei Monate im voraus, bekam aber die vorschriftsmäßige Quittung nicht, da der Hausbesitzer das Quittungsbuch am Vorabend zur Nachprüfung mitgenommen hatte. Als wir nach zwei Tagen in die Wohnung einzogen, stellte sich heraus, daß der Neger flüchtig geworden war unter Mitnahme des Wohnungsgeldes von einigen Mietern. Außer dem Geld hatten wir ihm auch unsere Sachen zur Aufbewahrung gegeben. Wir waren beunruhigt. Das war ein schlechter Anfang. Aber es stellte sich heraus, daß die Sachen vorhanden waren. Und als wir die Holzkiste mit dem Geschirr aufmachten, fanden wir darin zu unserer größten Verwunderung unsere Dollars, die sorgfältig in ein Papierchen eingewickelt waren. Der Genitory hatte nur das Geld jener Mieter mitgenommen, die rechtmäßige Quittungen erhalten hatten. Der Neger besaß mit dem Hausbesitzer kein Mitleid, wollte aber die Mieter nicht schädigen. Wahrhaftig, das war ein herrlicher Mann. Ich und meine Frau waren tief gerührt von seiner Aufmerksamkeit und haben ihm eine dankbare Erinnerung bewahrt. Die symptomatische Bedeutung dieses kleinen Abenteuers kam mir sehr groß vor. Es enthüllte sich mir gleichsam ein Eckchen des „schwarzen“ Problems der Vereinigten Staaten.

Amerika bereitete sich in jenen Tagen eifrigst für den Krieg vor. Am meisten trugen – wie stets – die Pazifisten dazu bei. Die billigen Reden von den Vorzügen des Friedens gegenüber dem Krieg schlossen sie mit dem Versprechen, den Krieg zu unterstützen, wenn er sich als „unabwendbar“ erweisen sollte. In diesem Sinne führte Bryan die Agitation. Die Sozialisten fielen in den Gesang der Pazifisten ein. Es ist ja bekannt, daß für Pazifisten der Krieg nur im Frieden ein Feind ist. Nach der deutschen Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges wurden auf allen Bahnhöfen und in den Häfen des Ostens der Vereinigten Staaten Berge von Kriegsvorräten konzentriert, die den Eisenbahnverkehr lahmlegten. Die Preise für Lebensmittel machten plötzlich einen großen Sprung nach oben, und ich beobachtete in dem reichen New York, wie Tausende und aber Tausende von Frauen und Müttern auf die Straße gingen, an den Verkaufsstellen Körbe umwarfen und Lebensmittelläden plünderten. Was wird das in der ganzen Welt erst nach dem Kriege geben, fragte ich mich und andere.

Am 3. Februar vollzog sich der langerwartete Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland. Die chauvinistische Musik wurde mit jedem Tag lauter. Die Tenöre der Pazifisten und die Fistelstimmen der Sozialisten störten die Harmonie nicht. Ich hatte das alles schon in Europa beobachtet, und die amerikanische Mobilmachung des Patriotismus war für mich nur eine Wiederholung des schon Durchgenommenen. Ich registrierte die Etappen des Prozesses in meiner russischen Zeitung und dachte über die Dummheit der Menschen nach, die so schrecklich langsam lernt.

Aus dem Fenster des Redaktionsraumes beobachtete ich folgendes Bild: Ein alter Mann mit eiternden Augen und einem zerzausten grauen Bart blieb vor einem Blechkasten mit Abfällen stehen und wühlte einen Kanten Brot hervor. Der Alte versuchte, das Brot mit den Händen zu zerbrechen, brachte das steinharte Stück an die Zähne, schlug es dann einige Male an den Blechkasten. Es half nichts, das Brot widerstand. Dann sah sich der Alte halb erschrocken, halb beschämt um, schob den Fund unter sein rotgelbes Jackett und hinkte weiter die Straße des Heiligen Markus entlang ... Dieses kleine Erlebnis hatte ich am 2. März 1917. Es hat die Pläne der herrschenden Klasse nicht im geringsten gestört. Der Krieg mußte unvermeidlich kommen, und die Pazifisten mußten ihn unterstützen.

Als einer der ersten begegnete uns auf dem Boden New Yorks Bucharin, der kurz vorher aus Skandinavien ausgewiesen worden war. Bucharin kannte meine Familie schon aus den Wiener Zeiten und begrüßte uns mit der ihm eigenen kindlichen Begeisterung. Trotz unserer Müdigkeit und der späten Stunde führte er mich und meine Frau gleich am Tage unserer Ankunft zur Besichtigung einer öffentlichen Bibliothek. Seit der gemeinsamen Arbeit in New York beginnt die Anhänglichkeit Bucharins an mich, die, ständig wachsend, im Jahre 1923 in ihr Gegenteil umschlug. Die Eigenschaft dieses Menschen besteht darin, daß er sich immer auf jemand stützen, an jemand attachiert sein, an jemand kleben muß. In solchen Zeiten erscheint Bucharin einfach als Medium, durch das irgendein anderer spricht und handelt. Doch darf man ein Medium nie aus den Augen lassen: sonst gerät es unmerklich für sich selbst unter einen direkt entgegengesetzten Einfluß, wie andere Menschen unter ein Automobil geraten, und beginnt dann seinen Abgott mit derselben leidenschaftlichen Hingabe zu verleumden, mit der es ihn vorher in alle Himmel gehoben hat. Ich habe niemals Bucharin sehr ernst genommen und überließ ihn sich selbst, und das heißt – den anderen. Bucharin wurde nach dem Tode Lenins das Medium von Sinowjew und später von Stalin. Im Augenblick, wo diese Zeilen geschrieben werden, macht Bucharin eine neue Krise durch, und ein neues, mir noch unbekanntes Fluidum durchdringt ihn.

In Amerika war damals auch die Kollontai. Sie reiste viel herum, und ich habe sie verhältnismäßig selten getroffen. Während des Krieges hat sie eine scharfe Evolution nach links durchgemacht und ist aus den Reihen der Menschewiki zu dem linkesten Flügel der Bolschewiki übergegangen. Ihre Sprachkenntnisse und ihr Temperament machten sie zu einem wertvollen Agitator. Ihre theoretischen Ansichten waren stets konfus. In der New Yorker Periode war ihr nichts revolutionär genug. Sie korrespondierte mit Lenin. Tatsachen und Ideen durch ihr damals ultralinkes Prisma brechend, versorgte Kollontai Lenin mit amerikanischen Informationen, unter anderem auch über meine Tätigkeit. In den Antwortbriefen von Lenin kann man einen Widerhall dieser völlig untauglichen Informationen finden. Im Kampfe gegen mich haben die Epigonen später nicht versäumt, wissentlich die irrtümlichen Urteile Lenins anzuführen, von denen er sich später durch Wort und Tat selbst losgesagt hat. In Rußland trat die Kollontai von den ersten Tagen an in ultralinke Opposition nicht nur zu mir, sondern auch zu Lenin. Sie hat sehr viel gegen das „Regime Lenin-Trotzki“ gekämpft, um sich später vor dem Regime Stalin rührend zu beugen.

Die sozialistische Partei der Vereinigten Staaten ist ideologisch weit zurückgeblieben, sogar hinter dem europäischen Sozialpatriotismus. Der Hochmut der damals noch neutralen amerikanischen Presse gegenüber dem „besessenen“ Europa fand auch in den Urteilen der amerikanischen Sozialisten ein Echo. Menschen wie Hillquit waren nicht abgeneigt, die Rolle des sozialistischen amerikanischen Onkelchens zu spielen, der im rechten Augenblick nach Europa kommen und die streitenden Parteien der Zweiten Internationale miteinander versöhnen würde. Noch jetzt kann ich mich nicht ohne Lächeln an die Führer des amerikanischen Sozialismus erinnern. Emigranten, die in der Jugend irgendeine Rolle in Europa gespielt hatten, verloren sie die mitgebrachten theoretischen Voraussetzungen schnell im Gedränge des Ringens um den Erfolg. In den Vereinigten Staaten gibt es eine breite Schicht prospenerender und halbprosperierender Ärzte, Advokaten, Dentisten, Ingenieure und so weiter, die ihre kostbaren Mußestunden zwischen den Konzerten europäischer Berühmtheiten und der amerikanischen sozialistischen Partei teilen. Ihre Weltanschauung besteht aus Brocken und Fetzen der Weisheit, die sie in ihren Studentenjahren sich aneigneten. Da jeder von ihnen außerdem ein Automobil besitzt, so wählt man sie unvermeidlich in führende Komitees, Kommission en, Parteidelegationen. Dieses hochnäsige Publikum drückt seinen Stempel dem Geist des amerikanischen Sozialismus auf. Wilson war für sie eine unvergleichlich größere Autorität als Marx. Im Grunde sind es nur Abarten des Mister Babbit, der seine Business durch faule Sonntagsbetrachtungen über die Zukunft der Menschheit ergänzt. Diese Menschen leben in kleinen nationalen Clans, wo die Ideensolidarität vor allem als Deckmantel für geschäftliche Verbindungen dient. Jeder Clan hat seinen Führer, meist ist es der vermögendste Babbit. Sie sind sehr duldsam gegen alle Ideen, falls diese ihre traditionelle Autorität nicht untergraben und – Gott behüte – ihr persönliches Wohlergehen nicht bedrohen. Der Babbit aller Babbits ist Hillquit, der idealste sozialistische Führer der prosperierenden Zahnärzte.

Schon mein erstes Zusammentreffen mit diesen Menschen genügte, um in ihnen einen offenen Haß gegen mich hervorzurufen. Meine Gefühle für sie, die vielleicht ruhiger waren, zeichneten sich gleichfalls nicht durch Sympathie aus. Wir gehörten verschiedenen Welten an. In meinen Augen waren sie der verfaulteste Teil einer Welt, gegen die ich den Krieg geführt hatte und führe.

Der alte Eugene Debs hob sich auf dem Hintergrunde der älteren Generation stark ab durch das nicht erlöschende innere Flämmchen des sozialistischen Idealismus. Ein aufrichtiger Revolutionär, aber Romantiker und Prediger, absolut kein Politiker und Führer, geriet Debs unter den Einfluß von Menschen, die in jeder Beziehung unter ihm standen. Die Hauptkunst Hillquits bestand darin, auf seinem linken Flügel Debs zu behalten, ohne die geschäftliche Freundschaft mit Gompers einzubüßen. Persönlich machte Debs einen bezaubernden Eindruck. Bei unseren Begegnungen umarmte und küßte er mich: man darf nicht übersehen, daß der Alte nicht zu den „Trockenen“ zählte. Als die Babbits die Blockade gegen mich erklärten, beteiligte sich Debs daran nicht, – er ging nur betrübt beiseite.

Ich trat gleich in den ersten Tagen in die Redaktion der russischen Zeitung Nowy Mir ein, wo, außer Bucharin, der später von den Sozialrevolutionären bei Petrograd ermordete Wolodarski und der bei Petrograd verwundete und dann in der Ukraine getötet Tschudnowski bereits arbeiteten. Diese Zeitung wurde das Zentrum der revolutionär-internationalistischen Propaganda. In allen nationalen Föderation en der sozialistischen Partei waren Mitarbeiter, die die russische Sprache beherrschten. Viele Mitglieder der russischen Föderation sprachen Englisch. Die Ideen der Nowy Mir drangen auf diese Weise in die breitesten Kreise der amerikanischen Arbeiter. Die Mandarinen des offiziellen Sozialismus wurden scheu. Es begannen rasende Intrigen der Gruppen gegen den europäischen Eindringling, der erst gestern amerikanischen Boden betreten hat, die amerikanische Psychologie nicht kennt und den amerikanischen Arbeitern seine phantastischen Methoden aufdrängen möchte. Der Kampf entwickelte sich mit aller Schärfe. In der russischen Föderation wurden die „erprobten“ und „verdienten“ Babbits sofort zurückgedrängt. In der deutschen Föderation verlor der alte Schlüter, der Chefredakteur der Volkszeitung und Mitkämpfer Hillquits, seinen Einfluß immer mehr an den jungen Redakteur Lore, der mit uns ging. Die Letten waren völlig mit uns. Die finnische Föderation neigte zu uns. Immer erfolgreicher drangen wir in die mächtige jüdische Föderation mit ihrem vierzehnstöckigen Palast ein, aus dem täglich zweihunderttausend Exemplare der Zeitung Vorwärts mit dem stickigen Geiste des sentimental-spießbürgerlichen Sozialismus, der stets zu schlimmeren Verrätereien bereit ist, herausgeschleudert wurden. In der rein amerikanischen Arbeitermasse waren die Verbindungen und der Einfluß der sozialistischen Partei insgesamt und unseres revolutionären Flügels im besonderen nicht bedeutend. Die englische Parteizeitung The Call wurde im Geiste der inhaltlosen pazifistischen Neutralität geleitet. Wir beschlossen, eine aktive marxistische Wochenschrift zu gründen. Die Vorbereitungsarbeiten waren in vollem Gange. Doch wurden sie vereitelt durch die russische Revolution.

Nach einem geheimnisvollen, zwei, drei Tage währenden Schweigen des Telegraphen kamen die ersten Nachrichten vom Umsturz in Petrograd, sie waren wirr und chaotisch. Das vielstämmige Arbeitervolk von New York wurde von heller Aufregung erfaßt. Man wollte hoffen und fürchtete zu hoffen. Die amerikanische Presse war in vollster Verwirrung. Von überall kamen Journalisten, Interviewer, Berichterstatter, Reporter in die Redaktion der Nowy Mir gestürzt. Für eine gewisse Zeit stand unsere Zeitung im Brennpunkt der gesamten New-Yorker Presse. Aus sozialistischen Redaktionen und Organisationen läutete man ununterbrochen an.

„Es ist ein Telegramm eingetroffen, daß in Petrograd ein Ministerium Gutschkow-Miljukow gebildet sei. Was bedeutet das?“

„Daß morgen ein Ministerium Miljukow-Kerenski kommen wird.“

„So! Na und dann?“

„Und dann – kommen wir.“

„Oho!“

Solche Dialoge wiederholten sich dutzendemal. Fast alle faßten meine Worte als einen Scherz auf. In einer engeren Versammlung der ehrenwerten und der allerehrenwertesten russischen Sozialdemokraten hielt ich ein Referat, in dem ich die Unvermeidlichkeit der Eroberung der Macht durch die Partei des Proletariats im zweiten Stadium der russischen Revolution nachwies. Das rief eine solche Wirkung hervor wie etwa ein Stein, den man in einen von gutgesitteten und phlegmatischen Fröschen bevölkerten Sumpf hineinwirft. Doktor Ingerman konnte es nicht unterlassen, der Versammlung zu erklären, ich begriffe die ersten vier Regeln der Arithmetik nicht und es verlohne sich kaum, auf die Widerlegung meiner Fieberphantasien fünf Minuten Zeit zu verlieren.

Die Arbeitermassen verhielten sich zu den Perspektiven der Revolution anders. In allen Teilen New Yorks fanden nach Umfang und Stimmung ungewöhnliche Meetings statt. Die Nachricht, daß über dem Winterpalais die rote Fahne wehe, rief begeisterten Jubel hervor. Nicht nur die russischen Emigranten, sondern auch deren Kinder, die oft der russischen Sprache nicht mehr mächtig waren, kamen in die Versammlungen, um den Abglanz der Revolutionsbegeisterung zu genießen.

Ich zeigte mich in der Familie nur kurz. Dort aber herrschte ein eigenes Leben. Meine Frau richtete das Heim ein. Die Kinder bekamen neue Freunde. Der wichtigste Freund war der Chauffeur des Doktors M. Die Frau des Doktors hatte sich mit meiner Frau angefreundet, machte mit den Jungens Fahrten und war zu ihnen sehr freundlich. Aber sie war nur ein einfacher sterblicher Mensch. Der Chauffeur jedoch war ein Zauberer, ein Titan, ein Übermensch. Seiner Handbewegung gehorchte das Automobil. Neben ihm zu sitzen war das höchste Glück. Besuchte man eine Konditorei, dann zupften die Jungens beleidigt an der Mutter: „Warum kommt der Chauffeur nicht mit?“

Die Anpassungsfähigkeit der Kinder ist unermeßlich. Da wir in Wien meistens im Arbeiterviertel gelebt hatten, beherrschten die Jungens außer Russisch und Deutsch auch den Wiener Dialekt vorzüglich. Doktor Alfred Adler pflegte vergnügt zu sagen, sie sprächen wienerisch wie ein guter alter Wiener Fiakerkutscher. In der Züricher Schule mußten sie zum Züricher Dialekt übergehen, der in den unteren Klasse die Unterrichtssprache ist; Deutsch wird als fremde Sprache gelehrt. In Paris gingen die Jungens schroff zur französischen Sprache üben. In einigen Monaten beherrschten sie diese Sprache völlig. Ich habe sie nicht selten um die Ungezwungenheit beneidet, mit der sie redeten. In Spanien und auf dem spanischen Dampfer hatten sie nicht einen Monat verbracht. Aber das hatte für sie hingereicht, um sich die gebräuchlichsten Worte und Ausdrücke anzueignen. Schließlich besuchten sie jetzt in New York zwei Monate eine amerikanische Schule und beherrschten nun ein ungeschliffenes Englisch. Nach der Februarrevolution wurden sie Petrograder Schüler. Es war kein geordnetes Schulleben. Die fremden Sprachen verflüchtigten sich aus ihrem Gedächtnis noch schneller, als sie dort eingedrungen waren. Russisch aber sprachen sie wie Ausländer. Häufig entdeckten wir erstaunt, daß der russische Satzbau bei ihnen eine genaue Übersetzung aus dem Französischen war. Französisch aber vermochten sie den Satz nicht mehr zu konstruieren. So zeichnete sich in den Gehirnen der Kinder, wie auf dem Palimpsest, die Geschichte unserer Wanderungen in der Emigration ab.

Als ich meiner Frau aus der Redaktion telephonierte, in Petrograd sei Revolution, lag der jüngere Knabe an Diphtherie krank. Er war neun Jahre alt. Er wußte aber schon genau, daß Revolution Amnestie bedeutet, Rückkehr nach Rußland und tausend andere Segen. Er sprang hoch und hopste im Bett herum zu Ehren der Revolution. So offenbarte sich seine Genesung. Wir beeilten uns, mit dem ersten Dampfer abzufahren. Ich lief in die Konsulate nach Papieren und Visen. Am Tage vor der Abreise hatte der Arzt dem genesenden Knaben erlaubt, auszugehen. Meine Frau ließ den Jungen für eine halbe Stunde hinunter und packte die Sachen. Wie viele Male schon mußte sie diese Operation vornehmen! Aber der Junge kam nicht zurück. Ich war in der Redaktion. Es vergingen drei qualvolle Stunden. Dann klingelte man in unserer Wohnung. Zuerst eine unbekannte Männerstimme, dann die Stimme von Serjoscha: „Ich bin hier.“ „Hier“ bedeutete das Polizeirevier am anderen Ende von New York. Der Junge hatte seinen ersten Spaziergang benutzt, um die ihn schon lange beschäftigende Frage zu lösen: gibt es denn wirklich die erste Straße (wir wohnten, wenn ich nicht irre, in der 164.). Er verirrte sich aber, begann zu fragen und wurde schließlich ins Polizeirevier gebracht. Zum Glück wußte er die Nummer unseres Telephons. Als meine Frau mit dem älteren Jungen nach einer Stunde ins Polizeirevier kam, empfing man sie dort mit freundlichen Begrüßungen wie einen lang erwarteten Besuch. Serjoscha, ganz rot im Gesicht, spielte mit einem Polizeibeamten Dame. Um die Verlegenheit zu verbergen, in die ihn der Überfluß administrativer Aufmerksamkeit versetzt hatte, kaute er zusammen mit seinen neuen Freunden den schwarzen amerikanischen Kaugummi. Dafür aber kennt er bis auf den heutigen Tag die Telephonnummer unserer New-Yorker Wohnung.

Zusagen, daß ich New York kennengelernt habe, wäre eine schreiende Übertreibung, allzubald hatte ich mich – und zwar bis über den Kopf – in die Angelegenheiten des amerikanischen Sozialismus vertieft. Die russische Revolution kam schnell. Ich hatte allenfalls Zeit gehabt, den allgemeinen Rhythmus jenes Ungeheuers zu erfassen, das man New York nennt. Ich reiste nach Europa mit dem Gefühl eines Menschen ab, der nur mit einem Auge in jene Schmiede hineinblicken konnte, in der das Schicksal der Menschheit geschmiedet wird. Ich tröstete mich damit, daß ich einmal zurückkehren würde. Ich habe bis jetzt diese Hoffnung nicht aufgegeben.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008