Leo Trotzki

 

Mein Leben


Verbannung

Über die Ausweisung nach Zentralasien bringe ich die ungekürzten Aufzeichnungen meiner Frau:

Am 16. Januar 1927 werden schon seit dem frühen Morgen die Sachen gepackt. Ich habe erhöhte Temperatur, vor Fieber und Schwäche ist mir schwindlig in diesem Chaos der soeben aus dem Kreml herübergebrachten und der übrigen Sachen, die zum Mitnehmen eingepackt werden müssen. Ein Durcheinander von Möbeln, Kisten, Wäsche, Büchern; daneben gibt es endlose Besuche, – Freunde, die Abschied nehmen wollen. Unser Arzt und Freund F.A. Guetier rät naiverweise, wegen meiner Erkältung die Reise zu verschieben. Er hat keine klare Vorstellung, was unsere Reise ist und was es bedeuten würde, sie jetzt zu verschieben. Wir hoffen, daß ich mich eher im Zuge erholen werde; denn unter den Verhältnissen der „letzten Tage“ war zu Hause eine Erholung nicht leicht möglich. Vor den Augen tauchen immer neue Gesichter auf, viele, die ich zum erstenmal sehe. Umarmungen, Händedrücken, Sympathieäußerungen, Glückwünsche. Das Chaos vergrößert sich durch Blumenspenden, Bücher, Konfekt, warme Sachen usw. Der letzte Tag der Hetze, Spannung, Aufregung geht zu Ende. Alle Sachen sind zum Bahnhof gebracht worden. Die Freunde haben sich ebenfalls dorthin begeben. Die ganze Familie sitzt im Eßzimmer, zur Reise bereit. Wir warten auf die Agenten der GPU. Wir sehen auf die Uhr ... neun, neuneinhalb ... Niemand kommt. Zehn. Die Stunde der Abfahrt des Zuges. Was ist geschehen? Hat man es sich anders überlegt? Das Telephon klingelt. Aus der GPU teilt man mit, die Reise sei verschoben. Gründe werden nicht angegeben. „Für lange?“ fragt L.D. „Für zwei Tage“, antwortet man ihm, „die Abreise erfolgt übermorgen.“ Nach einer halben Stunde kommen Freunde vom Bahnhof, zuerst Jugendliche, dann Rakowski und andere. Auf dem Bahnhof sei eine riesige Demonstration gewesen. Man wartete, rief „Es lebe Trotzki“. Aber Trotzki war nicht zu sehen. Wo ist er? Vor dem Waggon, der für uns bestimmt war, eine erregte Menge. Junge Freunde hatten auf dem Dache des Waggons ein großes Bild von L.D. aufgestellt. Man begrüßte es mit begeistertem „Hoch“. Der Zug keuchte, stieß einmal vor, noch einmal, machte einen Ruck und blieb plötzlich stehen. Die Demonstranten liefen vor die Lokomotive, klammerten sich an die Waggons, hielten den Zug an und riefen nach Trotzki. In der Menge verbreitete sich das Gerücht, Agenten der GPU hätten L.D. heimlich in den Waggon gebracht und verhinderten ihn nun, sich den Abschiednehmenden zu zeigen. Auf dem Bahnhof herrschte eine unbeschreibliche Aufregung. Es kam zu Zusammenstößen mit der Miliz und den Agenten der GPU, auf beiden Seiten gab es Verletzte; Verhaftungen wurden vorgenommen. Der Zug konnte anderthalb Stunden nicht abfahren. Nach einer Weile brachte man unser Gepäck vom Bahnhof zurück. Fortwährend erkundigten sich Freunde telephonisch, ob wir zu Hause seien, und berichteten über die Ereignisse auf dem Bahnhof. Es war lange nach Mitternacht, als wir schlafen gingen. Nach den Aufregungen der letzten Tage schliefen wir bis 11 Uhr mittags. Niemand klingelte. Alles war ruhig. Die Frau unseres ältesten Sohnes ging zum Dienst: es war ja noch zwei Tage Zeit, Kaum aber hatten wir gefrühstückt, da läutete es an der Türe. Erst kam F.W. Beloborodowa, dann M.M. Joffe. Es läutete wieder – jetzt füllte sich die ganze Wohnung mit Agenten der GPU in Uniform und in Zivil. L.D. wurde die Order über seine Verhaftung und den sofortigen Abtransport unter Bewachung nach Alma-Ata ausgehändigt. Und die zwei Tage, von denen die GPU gestern abend gesprochen hatte. Wieder ein Betrug! Diese Kriegslist war angewandt worden, um eine Wiederholung der Demonstration bei der Abreise zu vereiteln. Das Telephon klingelte ununterbrochen. Aber am Telephon steht ein Agent und verhindert mit gutmütiger Miene das Antworten. Nur durch Zufall gelingt es, Beloborodow zu enachrichtigen, daß das Haus von der GPU besetzt sei und daß man uns mit Gewalt wegbringen werde. Später teilte man uns mit, daß Bucharin mit der „politischen Leitung“ des Abtransportes von L.D. beauftragt gewesen sei. Das wäre ja durchaus im Geiste der Stalinschen Machinationen ... Die Agenten waren sichtbar erregt L.D. weigerte sich, freiwillig zu fahren. Er benützte die Gelegenheit, um die Lage zu klären. Es handelte sich nämlich darum: das politische Büro war bestrebt, der Verbannung, wenigstens der bekanntesten Oppositionellen, den Anschein einer freiwilligen Vereinbarung zu geben. In diesem Sinne hatte man den Arbeitern die Verbannung dargestellt. Es war also wichtig, diese Legende zu zerstören und zu zeigen, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, und zwar in einer Form, die ein Verschweigen oder eine Fälschung unmöglich machte. Daher der Entschluß L.D.s, den Gegner zu zwingen, offen Gewalt anzuwenden. Wir sperrten uns mit unseren zwei Besucherinnen in einem Zimmer ein. Die Verhandlungen mit den Agenten wurden durch die verschlossene Tür geführt. Sie wußten nicht, was zu tun, schwankten, führten telephonische Unterredungen mit ihren Vorgesetzten, erhielten Weisungen und erklärten uns schließlich, sie würden die Tür aufbrechen, da sie ihren Befehl ausführen müßten. L.D. diktierte inzwischen eine Instruktion für das weitere Verhalten der Opposition. Wir öffneten nicht. Es folgte ein Schlag mit dem Hammer, die Scheiben der Tür klirrten in Scherben, ein Arm in Uniform wurde durchgesteckt. „Schießen Sie auf mich, Genosse Trotzki, schießen Sie“, wiederholte aufgeregt Kitschkin, ein früherer Offizier, der L.D. häufig auf dessen Frontreisen begleitet hatte. „Reden Sie keinen Unsinn, Kitschkin“, antwortete ihm ruhig L.D., „niemand will auf Sie schießen, Sie erfüllen ja nur einen Auftrag.“ Sie schließen die Tür auf und kommen herein, aufgeregt und verwirrt. Als die Agenten sehen, daß L.D. in Hausschuhen ist, suchen sie seine Schuhe und ziehen sie ihm an. Dann holen sie Pelz und Mütze ... und ziehen auch die ihm an. L.D. weigert sich, einen Schritt zu tun. Da nehmen sie ihn auf die Arme und tragen ihn weg. Ich werfe mir schnell den Pelz um und ziehe die Überschuhe an ... Wir eilen hinterher. Die Tür wird hinter mir zugeschlagen. Hinter der Tür höre ich Lärm. Ich schreie die Leute an, die L.D. die Treppe hinuntertragen und verlange, daß man unsere Söhne herauslasse: der ältere sollte mit uns in die Verbannung gehen. Die Tür wird geöffnet, meine Söhne stürzen heraus, auch unsere Besucherinnen, Beloborodowa und Joffe. Sie sind alle durchgeschlüpft. Serjoscha hat dabei seine Sportgriffe angewandt. Beim Hinunterlaufen klingelt Ljowa auf der Treppe an allen Türen und schreit: „Man trägt den Genossen Trotzki weg.“ Erschrockene Gesichter tauchen in den Türen und auf der Treppe auf. In diesem Hause wohnen nur höhere Sowjetfunktionäre. Das Automobil ist gestopft voll. Serjoschas Beine finden kaum Platz. Beloborodowa begleitet uns. Wir fahren durch die Straßen Moskaus. Es herrscht starker Frost. Serjoscha ist ohne Mütze. Er hat sie in der Hast nicht mitnehmen können; alle sind ohne Galoschen, ohne Handschuhe; es ist kein Koffer mit uns, nicht einmal eine Handtasche. Man fährt uns nicht zum Kasaner Bahnhof, sondern in eine andere Richtung – es stellt sich bald heraus: zum Jaroslawer Bahnhof. Serjoscha macht einen Versuch, aus dem Automobil hinauszuspringen, um unsere Schwiegertochter zu benachrichtigen, daß man uns abtransportiert. Die Agenten aber halten Serjoscha an den Händen fest und wenden sich an L.D. mit der Bitte, Serjoscha zu überreden, nicht aus dem Wagen zu springen.

Wir kommen auf den völlig leeren Bahnhof. Die Agenten tragen L.D. auf den Armen aus dem Automobil heraus, wie vorher aus der Wohnung. Ljowa schreit den wenigen Eisenbahnarbeitern zu: „Genossen, seht, wie man den Genossen Trotzki wegträgt.“ Ein Agent der GPU, der ehemals L.D. auf seinen Jagdreisen begleitet hatte, packt Ljowa am Kragen. „So ein Quecksilber“, schreit er. Serjoscha antwortet ihm mit der Ohrfeige eines geübten Sportsmannes. – Wir sind im Waggon. An den Fenstern unseres Abteils und an der Tür stehen Posten. Die übrigen Abteile sind mit GPU-Agenten besetzt. Wohin geht die Fahrt? Wir wissen es nicht. Unser Gepäck hat man nicht gebracht. Die Lokomotive setzt sich mit dem einzigen Wagen in Bewegung. Es ist 2 Uhr mittags. Es stellt sich heraus, daß man uns auf einem Umweg zu einer kleinen Station bringt, wo unser Waggon an den Postzug angekoppelt werden soll, der aus Moskau vom Kasaner Bahnhof nach Taschkent fährt. Um 5 Uhr verabschiedeten wir uns von Serjoscha und Beloborodowa, die mit dem entgegenkommenden Zug nach Moskau zurückfuhren. Die Fahrt ging weiter. Ich hatte Schüttelfrost. L.D. war guter Stimmung, beinah lustig. Die Lage hatte sich geklärt. Die Atmosphäre wurde ruhiger. Die Wachen waren zuvorkommend und höflich. Es wurde uns mitgeteilt, unser Gepäck käme mit dem nächsten Zug und werde uns in Frunse (der letzten Eisenbahnstation) einholen; – das bedeutete: am neunten Tage unserer Reise. Wir fuhren also ohne Wäsche und ohne Bücher. Mit wieviel Aufmerksamkeit und Liebe hatten Sermux und Posnanski die Bücher geordnet, sorgsamst die einen für die Fahrt, die anderen für die erste Zeit nach der Ankunft ausgewählt; wie bedacht hatte Sermux, der die Gewohnheiten und den Geschmack L.D.s gut kennt, das Schreibzeug eingepackt. Auf wieviel Reisen schon hatte er in den Revolutionsjahren L.D. als Stenograph und Sekretär begleitet. L.D. arbeitete unterwegs stets mit verdoppelter Energie, den Umstand ausnutzend, daß es weder Telephon noch Besucher gab; wobei die Hauptlasten der Hilfe erst Glasmann, später Sermux trug. Jetzt befanden wir uns auf einer weiten Reise ohne ein einziges Buch, ohne Bleistift, ohne ein Blatt Papier. Vor der Abreise hatte Serjoscha uns das Buch von Semjonow-Tjanschanski, ein wissenschaftliches Werk über Turkestan, verschafft. Wir wollten uns unterwegs mit unserem zukünftigen Wohnort vertraut machen, von dem wir nur wenig wußten. Aber auch Semjonow-Tjanschanski war zusammen mit den anderen Sachen im Koffer in Moskau geblieben. Wir saßen mit leeren Händen im Waggon, als führen wir nur aus dem einen Stadtteil in den anderen. Am Abend streckten wir uns auf den Bänken aus, den Kopf auf den Arm gestützt. An der halbgeöffneten Türe des Abteils stand dauernd ein Wachtposten.

Was erwartet uns? Wie wird sich unsere Reise gestalten? Und die Verbannung? Welche Lebensbedingungen werden wir vorfinden? Der Anfang versprach nichts Gutes. Trotzdem fühlten wir uns ruhig. Der Waggon schaukelte leise. Wir lagen ausgestreckt auf den Bänken. Die halbgeöffnete Tür mahnte uns an unsere Gefangenschaft. Wir waren müde von all den Überraschungen, von der Ungewißheit und der Spannung der letzten Tage und ruhten jetzt aus. Es war still. Die Wachen schwiegen. Ich fühlte mich schlecht. L.D. bemühte sich auf jede Weise, mir Erleichterung zu verschaffen; aber er verfügte über nichts als über eine muntere, freundliche Stimmung, die sich auch auf mich übertrug. Wir beachteten nicht mehr die Umgebung und genossen die Ruhe. Ljowa befand sich im Abteil nebenan. In Moskau hatte er sich ganz der Oppositionsarbeit hingegeben. Jetzt ging er mit uns in die Verbannung, um uns eine Hilfe zu sein, und hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich von seiner Frau zu verabschieden. Von nun an war er unsere einzige Verbindung mit der Außenwelt. im Waggon war es fast dunkel, die Stearinkerzen über der Tür brannten trübe. Wir fuhren gen Osten. Je weiter wir uns von Moskau entfernten, um so zuvorkommender wurde die Wache. In Samara kaufte sie uns Wäsche zum Wechseln, Seife, Zahnbürsten und so weiter. Das Mittagessen für uns und für die Wache wurde auf den Bahnhöfen besorgt. L.D., der gezwungen ist, strenge Diät zu halten, aß jetzt alles, was man uns gab, und ermunterte mich und Ljowa. Mit Staunen und Angst beobachtete ich diesen Appetit. Die Gebrauchsgegenstände, die man uns in Samara gekauft hatte, erhielten besondere Namen, zum Beispiel Menschinski-Handtuch, Jagoda-Socken (nach dem Stellvertreter Menschinskis) und so weiter. Damit bekamen die Sachen einen lustigeren Charakter. Infolge der Schneegestöber hatte der Zug große Verspätungen. Aber tagaus, tagein ging es tiefer nach Asien hinein.

Vor der Abreise hatte L.D. verlangt, zwei seiner alten Mitarbeiter mitnehmen zu dürfen. Das war abgelehnt worden. Darauf beschlossen Sermux und Posnanski, auf eigene Faust zu reisen, und zwar im gleichen Zug mit uns. Sie hatten in einem anderen Wagen Platz genommen, Waren Zeugen der Demonstration, verließen aber ihre Plätze nicht, da sie glaubten, wir befänden uns im Zuge. Nach einiger Zeit entdeckten sie unsere Abwesenheit, stiegen in Arys aus und erwarteten uns mit dem nächsten Zug. Hier trafen wir sie. Das heißt: gesehen hatte sie nur Ljowa, der eine gewisse Bewegungsfreiheit genoß; aber tief erfreut waren wir alle. Hier eine Aufzeichnung meines Sohnes, die er damals machte: „Am Morgen gehe ich in den Wartesaal, vielleicht werde ich dort die Genossen entdecken, über deren Schicksal wir uns den ganzen Weg unterhalten und gesorgt haben. Und richtig: da sind sie beide, sitzen im Restaurant an einem Tischchen und spielen Schach. Es ist schwer, meine Freude zu beschreiben. Ich mache ihnen ein Zeichen, nicht an mich heranzukommen; nach meinem Erscheinen beginnt im Restaurant das übliche lebhafte Treiben der GPU. Ich eile in den Zug, meine Entdeckung mitzuteilen. Allgemeine Freude. Selbst L.D. kann ihnen nicht böse sein, obwohl sie die Instruktion verletzt und hier vor aller Augen gewartet haben, anstatt weiterzufahren. Das bringt sie unnötig in Gefahr. Nach der Rücksprache mit L.D. schreibe ich einen Zettel, den ich ihnen in der Dämmerung überreichen will. Die Instruktion lautet: Posnanski soll sofort allein nach Taschkent weiterfahren und dort Weisungen abwarten. Sermux soll, ohne mit uns in Verbindung zu treten, direkt nach Alma-Ata reisen. Es gelang mir, Posnanski zu einer Besprechung zu bestellen in einen verborgenen Winkel hinter dem Bahnhof, wo es keine Laterne gab; er kam hin, wir fanden uns nicht sofort; als wir uns dann trafen, waren wir sehr aufgeregt, redeten hastig, uns gegenseitig unterbrechend. Ich sagte ihm: „Sie haben die Türe eingebrochen... haben ihn auf den Armen fortgetragen.“ Er begriff nicht: Wer hat die Türen eingebrochen? Weshalb auf den Armen fortgeschleppt? Es blieb aber keine Zeit, deutlicher zu werden, man konnte uns entdecken. Die Zusammenkunft blieb also ergebnislos...“

Nach der Entdeckung, die Ljowa in Arys gemacht hatte, fuhren wir weiter mit dem Bewußtsein, daß sich im Zuge ein treuer Freund befand. Das war erfreulich. Am zehnten Tage bekamen wir unser Gepäck. Wir nahmen sogleich den „Semjonow-Tjanschanski“ heraus. Mit Interesse lasen wir die Beschreibungen über Alma-Atas Natur, Bevölkerung, Apfelgärten; und die Hauptsache: daß es dort eine großartige Jagd gäbe. Vergnügt nahm L.D. die Schreibutensilien heraus, die Sermux verpackt hatte. In Frunse (Pischpek) trafen wir am frühen Morgen ein. Es ist die letzte Station der Eisenbahn. Es war sehr kalt. Der weiße, saubere, appetitliche Schnee, von Sonnenstrahlen übergossen, blendete die Augen. Man brachte uns Bauernpelze und Filzschuhe. Mich erdrückte die schwere Kleidung fast, aber mir war unterwegs trotzdem kalt Der Autobus bewegte sich langsam auf der schneebedeckten, knirschenden Straße, der eisige Wind biß das Gesicht. Nach dreißig Kilometern hielten wir an. Es war dunkel. Es schien, als befänden wir uns in einer Schneewüste. Zwei Soldaten der Wache (es begleiteten uns zwölf bis fünfzehn Mann) kamen an uns heran und teilten uns verlegen mit, die Übernachtungsmöglichkeit sei hier nicht „berühmt“. Schwerfällig kletterten wir aus dem Autobus und tasteten durch die Dunkelheit zu der niedrigen Türe des Poststationsgebäudes, wo wir uns freudig der schweren Umhüllungen entledigten. Das Blockhaus war kalt, ungeheizt Die kleinen Fensterchen waren ganz zugefroren. In der Ecke stand ein großer russischer Ofen, aber er war leider kalt wie Eis. Wir erwärmten uns mit Tee. Aßen etwas. Unterhielten uns mit der Stationswirtin, einer Kosakenfrau. L.D. befragte sie nach dem Leben in der Gegend, nebenbei auch nach der Jagd. Alles schien seltsam. Das Wesentliche aber war doch die Ungewißheit, wie das alles enden würde. Wir begannen unser Nachtlager vorzubereiten. Die Wache hatte in der Nachbarschaft Unterkunft gefunden. Ljowa richtete sich auf einer Bank ein. Für mich und L.D. war der große Tisch das Bett; wir legten uns auf die Bauernpelze. Als wir so im dunklen, kalten Zimmer unter der niedrigen Decke lagen, mußte ich laut auflachen: „Der Kremlwohnung gar nicht ähnlich!“ L.D. und Ljowa stimmten mir zu. Beim Morgengrauen fuhren wir weiter. Der schwierigste Teil des Weges stand noch bevor. Die Fahrt über den Bergrücken Kurdaj. Grimmiger Frost. Die schwere Kleidung wurde eine unerträglkhe Last, sie drückte wie eine Mauer. Als wir wieder Rast machten, kamen wir mit dem Chauffeur und einem Agenten der GPU, die aus Alma-Ata uns entgegengekommen waren, ins Gespräch. Allmählich eröffnete sich das fremde unbekannte Leben uns mehr und mehr. Der Weg war für das Automobil schwierig. Die eingestampfte Straße war von Schnee verweht. Aber der Chauffeur lenkte den Wagen geschickt, kannte die Eigenheiten des Weges gut; und erwärmte sich mit Wodka. Der Frost wurde gegen nacht immer stärker. In dem Bewußtsein, daß in dieser Schneewüste alles von ihm abhänge, erleichterte der Chauffeur sein Herz durch ungenierte Kritik an Behörden und Ordnung ... Die Obrigkeit von Alma-Ata, die neben ihm saß, gab in dieser Schneewüste noch gute Worte; damit sie ja heil ankomme. Um drei Uhr nachts, bei völliger Dunkelheit, blieb der Wagen stehen. Wir waren angelangt. Aber wo? Es stellte sich heraus: in der Gogolstraße, vor dem Hotel „Dschetysu“ das wirklich aus der Zeit Gogols zu stammen scheint. – Wir bekamen zwei Zimmer. Die Nebenzimmer wurden von der Wache und den örtlichen Agenten der GPU besetzt. Ljowa prüfte das Gepäck nach, und es ergab sich, daß zwei Koffer mit Wäsche und mit Büchern irgendwo im Schnee geblieben waren. Nun fehlte uns doch wieder Semjonow-Tjanschanski. Verloren waren L.D.s Karten und Bücher über China und Indien, verloren das Schreibzeug. Fünfzehn Paar Augen hatten die Koffer nicht zu behüten vermocht ...

Ljowa zog am andern Morgen los, die Verhältnisse auszukundschaften. Er machte sich mit der Stadt bekannt, zuallererst mit Post und Telegraph, die nun in unserem Leben den Mittelpunkt bilden sollten. Er fand auch eine Apotheke. Unermüdlich stöberte er nach den notwendigsten Gegenständen, Federn, Bleistiften, Brot, Butter, Kerzen ... Weder ich noch L.D. verließen in den ersten Tagen die Zimmer, später machten wir abends kleine Spaziergänge. Die Verbindung mit der Außenwelt lief über unsern Sohn. Das Mittagessen brachte man uns aus dem nächsten Speisehaus. Ljowa war ganze Tage unterwegs. Wir erwarteten ihn stets mit Ungeduld. Er brachte Zeitungen, interessante Mitteilungen über die Sitten und Gebräuche der Stadt. Wir waren beunruhigt über den Verbleib von Sermux. Endlich, am vierten Tage, hörten wir im Korridor die bekannte Stimme. Wie war sie uns teuer! Wir lauschten hinter der Türe mit Spannung den Worten, den Schritten Sermux’. Sein Erscheinen eröffnete uns neue Aussichten. Er bekam ein Zimmer, Türe an Türe mit uns. Ich ging in den Korridor hinaus; er grüßte schweigend ... Ein Gespräch zu beginnen, wagten wir noch nicht, wir freuten uns stumm über seine Nähe. Am nächsten Tage ließen wir ihn verstohlen in unser Zimmer ein, teilten ihm schnell alles Vorgefallene mit und trafen Verabredungen für die gemeinsame Zukunft. Aber diese Zukunft war nur kurz. Am gleichen Tage, um zehn Uhr abends, kam das Ende. Im Hotel herrschte Stille. Ich saß mit L.D. in unserem Zimmer, die Tür in den kalten Korridor stand halb auf, da der Eisenofen eine unerträgliche Hitze ausströmte. Ljowa saß in seinem Zimmer. Wir vernahmen leise, behutsame, weiche Schritte von Filzschuhen im Korridor und horchten alle drei auf (denn auch Ljowa hatte, wie sich herausstellte, hingehört und gleich erraten, was vorging). „Da sind sie“, blitzte es durch unser Bewußtsein. Wir hörten, wie man ohne anzuklopfen in Sermux’ Zimmer trat; wie man sagte: „Beeilen Sie sich!“; wie er antwortete: „Darf man wenigstens die Filzstiefel anziehen?“ Er war wohl in Hausschuhen. Wieder kaum hörbare, weiche Schritte und dann wieder tiefe Stille. Später schloß der Portier die Tür von Sermux’ Zimmer ab. Wir haben Sermux nicht mehr gesehen. Einige Wochen hielt man ihn im Keller der GPU von Alma-Ata mit kriminellen Verbrechern zusammen bei einer Hungerration, dann schickte man ihn nach Moskau mit 25 Kopeken pro Tag für die Verpflegung. Nicht einmal für Brot hätte das gereicht. Wie wir später erfuhren, war Posnanski in Taschkent verhaftet und gleichfalls nach Moskau gebracht worden. Nach etwa drei Monaten erhielten wir von ihnen Nachricht, – schon aus der Verbannung. Durch einen glücklichen Zufall gerieten sie auf dem Transport nach dem Osten in den gleichen Waggon; ihre Plätze lagen gegenüber. Für eine Weile getrennt, trafen sie sich, um bald wieder auseinandergebracht zu werden: sie wurden in zwei verschiedene Orte verschickt.

So blieb L.D. ohne seine Mitarbeiter. Die Gegner rächten sich erbittert dafür, daß beide solidarisch mit L.D. der Revolution die Treue hielten. Den lieben bescheidenen Glasmann hatten sie bereits im Jahre 1924 zum Selbstmord getrieben. Sermux und Posnanski wurden verschickt. Butow, der stille, arbeitsame Butow, wurde verhaftet, man forderte falsche Aussagen von ihm und trieb ihn in den Hungerstreik, der im Gefängnishospital mit Butows Tod endete. Damit war das „Sekretariat“, das die Feinde L.D.s als Quelle alles Übels mit mystischem Hasse verfolgten, völlig vernichtet. Die Feinde waren der Ansicht, L.D. sei nun im fernen Alma-Ata restlos entwaffnet. Woroschilow prahlte öffentlich: „Wenn er dort auch stirbt, wird man es nicht so bald erfahren.“ Aber L.D. war nicht entwaffnet. Wir bildeten eine Genossenschaft zu dritt. Auf dem Sohn lag hauptsächlich die Arbeit, Verbindungen mit der Außenwelt herzustellen. Er leitete unseren Briefwechsel. L.D. nannte ihn entweder „Minister des Äußeren“ oder „Post-und Telegraphenminister“. Der Briefwechsel nahm bald einen großen Umfang an und lastete hauptsächlich auf Ljowa. Ihm oblag auch der Wachtdienst. Er suchte außerdem das notwendige Material für L.D.s Arbeiten zusammen: durchstöberte die alten Bestände der Bibliotheken, trieb ausländische Zeitungen auf, machte Auszüge. Er führte alle Verhandlungen mit der Ortsbehörde, bereitete die Jagden vor, pflegte den Jagdhund und das Gewehr. Außerdem beschäftigte er sich fleißig mit Wirtschaftsgeographie und mit Sprachen. Einige Wochen nach unserer Ankunft war L.D.s wissenschaftliche und politische Arbeit wieder in vollem Gang. Später entdeckte Ljowa auch eine Maschinenschreiberin. Die GPU ließ sie unbehelligt, sicherlich mit der Verpflichtung, über alles, was sie bei uns zu schreiben haben würde, der GPU zu berichten. Es wäre sicher höchst amüsant, zu hören, was dieses Mädchen, das im Kampfe gegen den Trotzkismus so wenig erfahren war, alles mitgeteilt haben mag.

Schön ist in Alma-Ata der Schnee, weiß, sauber, trocken: man geht und fährt dort nicht viel, er behält den ganzen Winter seine Frische. Im Frühling löst ihn der rote Mohn ab. Welche Unmengen gab es davon – riesenhafte Teppiche, kilometerweite Mohnsteppen von leuchtendem Rot. Im Sommer die Äpfel, die berühmte Alma-Ataer Zucht, groß und ebenfalls rot. In der Stadt gab es keine Wasserleitung, kein Licht, keine gepflasterten Straßen. Im Zentrum, auf dem schmutzigen Markt, wärmten sich auf den Stufen der Kaufläden die Kirgisen in der Sonne und suchten sich vom Körper die Insekten ab. Heftig wütete die Malaria. Auch Pestfälle kamen vor. Im Sommer gab es sehr viel tollwütige Hunde. Die Zeitungen berichteten öfters über Aussatz in dieser Gegend ...

Und doch haben wir den Sommer gut verbracht. Wir mieteten von einem Gärtner eine Hütte mit einer Aussicht auf die schneebedeckten Berge, die Ausläufer des Tian-Schan. Zusammen mit unserem Wirt und dessen Familie beobachteten wir das Reifen der Früchte und beteiligten uns eifrig an ihrer Ernte. Der Garten zeigte sich uns in mehreren Entwicklungsstufen. War mit weißen Blüten bedeckt. Dann standen die Bäume schwer mit tief gesenkten, auf Stützen ruhenden Zweigen. Dann lag das Obst wie ein bunter Teppich unter den Bäumen, auf Strohschütten, während die Bäume, von ihrer Last befreit, die Zweige wieder emporreckten. Er roch dann im Garten nach reifen Äpfeln, Birnen, es summten Bienen und Wespen. Wir kochten die Früchte ein.

Im Juni und Juli gab es im Apfelgarten und im Häuschen unter dem Dach aus Schilfrohr heiße Arbeit; unermüdlich klapperte die Schreibmaschine – eine in dieser Gegend ganz ungewöhnliche Erscheinung. L.D. diktierte die Kritik des Programms der Komintern, er korrigierte und ließ wieder abschreiben. Die Post war umfangreich, zehn bis fünfzehn Briefe am Tage, mit allerhand Thesen, Kritiken, interner Polemik, Neuigkeiten aus Moskau; es kamen auch viele Telegramme politischen Inhalts und Anfragen über unsere Gesundheit. Große Weltfragen waren mit kleinen, lokalen Angelegenheiten vermischt, die hier ja ebenfalls groß aussahen. Die Briefe von Sosnowski behandelten stets Tagesfragen und zeichneten sich durch Schwung und Schärfe aus. Die hervorragenden Briefe Rakowskis wurden abgeschrieben und weitergeschickt. Das kleine Zimmerchen mit der niedrigen Decke war voll von Tischen, auf denen Manuskripte, Mappen, Zeitungen, Bücher, Auszüge, Ausschnitte lagen. Ljowa ging ganze Tage nicht aus seinem Zimmer, das neben dem Pferdestall lag: er schrieb auf der Maschine, korrigierte das von der Schreibmaschinistin Geschriebene, kuvertierte, versandte die Post, empfing sie, suchte nötige Zitate heraus. Die Post brachte uns aus der Stadt ein Bote zu Pferde, ein Invalide. Gegen Abend stieg L.D. nicht selten mit Hund und Gewehr in die Berge, manchmal begleitete ich ihn, manchmal Ljowa. Wir kamen mit Wachteln, Tauben, Berghühnern oder Fasanen zurück. Alles ging gut bis zu dem regelmäßig wiederkehrenden Malariaanfall.

So verbrachten wir ein Jahr in Alma-Ata, der Stadt der Erdbeben und Überschwemmungen – am Fuße der Ausläufer des Tian-Schan, an der chinesischen Grenze, 230 Kilometer von der Eisenbahn und 4.000 Kilometer von Moskau entfernt, in Gesellschaft von Briefen, Büchern und der Natur.

Obwohl wir bei jedem Schritt auf geheime Freunde stießen – darüber zu sprechen ist noch zu früh –, waren wir äußerlich von der uns umgebenden Bevölkerung völlig isoliert, denn jeder, der den Versuch machte, mit uns in Berührung zu kommen, wurde bestraft, mitunter sehr hart ...

Den Bericht meiner Frau möchte ich noch ergänzen durch einige Auszüge aus dem damaligen Briefwechsel.

Am 28. Februar, bald nach meiner Ankunft, schrieb ich an einige gleichfalls verbannte Freunde: „In Anbetracht der bevorstehenden Übersiedlung der Kasakstaner Regierung nach Alma-Ata sind hier alle Wohnungen beschlagnahmt. Erst nachdem ich mich mit Telegrammen an die allerhöchste Stelle in Moskau gewandt hatte, wurde uns, nach dreiwöchigem Aufenthalt im Hotel endlich eine Wohnung zugewiesen. Man mußte mindestens einige Möbel kaufen, den zerstörten Herd wiederherstellen, überhaupt sich mit Aufbau beschäftigen, allerdings nicht nach dem Programm der Planwirtschaft. Diese Arbeit fiel ganz auf Natalja Iwanowna und Ljowa. Aber der Aufbau ist bis auf den heutigen Tag nicht beendet, denn der Herd will nicht warm werden.

Ich beschäftige mich viel mit Asien: Geographie, Ökonomie, Geschichte und so weiten. Mir fehlen die ausländischen Zeitungen. Ich habe schon an einige Stellen geschrieben und gebeten, mir solche zu schicken, wenn auch nicht ganz neue. Die Post kommt mit großen Verspätungen an und, wie es scheint, sehr unregelmäßig... unklar ist die Rolle der Kommunistischen Partei Indiens.

Die Zeitungen brachten Berichte über das Auftreten von ‚Arbeiter- und Bauernparteien‘ in verschiedenen Provinzen. Der Name selbst schafft berechtigte Unruhe. Wurde doch auch die Kuomintang seinerzeit zur Arbeiter- und Bauernpartei erklärt. Daß sich die Geschichte nur nicht wiederholt!

Der englisch-amerikanische Antagonismus ist endlich ernstlich zum Vorschein gekommen. Jetzt beginnen Stalin und Bucharin anscheinend zu begreifen, um was es geht. Unsere Zeitungen vereinfachen jedoch die Sache sehr, wenn sie die Lage so darstellen, als würden die sich zuspitzenden anglo-amerikanischen Differenzen unmittelbar zum Kriege führen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß in diesem Prozesse noch verschiedene Wendungen eintreten werden. Der Krieg wäre für beide Partner ein zu gefährliches Spiel. Sie werden noch mehrere Male versuchen, zu einem friedlichen Ausgleich zu kommen. Im allgemeinen geht jedoch die Entwicklung mit Riesenschritten einer blutigen Lösung entgegen.

Ich habe unterwegs zum erstenmal die Schrift von Marx Herr Vogt gelesen. Um ein Dutzend verleumderischer Behauptungen Karl Vogts zu widerlegen, schrieb Marx ein Buch von 200 eng gedruckten Seiten und sammelte Dokumente, Zeugenaussagen, analysierte die Beweise direkt und indirekt ... Wollten wir die Verleumdungen der Stalinisten in diesem Maßstabe widerlegen, wir wären gezwungen, eine tausendbändige Enzyklopädie herauszugeben ...“

Im April beschrieb ich einigen „Eingeweihten“ Freuden und Leiden der Jagd: „Mit meinem Sohn fuhren wir zum Flusse Ili in der festen Absicht, die Frühlingssaison restlos auszunutzen. Wir nahmen diesmal Zelte; Filze, Pelze und so weiter mit, um nicht in den Jurten übernachten zu müssen ... Aber es fiel wieder Schnee und es kamen Fröste. Man kann diese Tage als Tage großer Prüfungen bezeichnen. In den Nächten erreichte die Kälte acht bis zehn Grad unter Null. Trotzdem betraten wir neun Tage lang keine Hütte. Infolge der warmen Wäsche und der warmen Kleidung litten wir fast nicht unter Frost. Die Stiefel jedoch froren in der Nacht zusammen, man mußte sie über dem Lagerfeuer auftauen, da wir sonst nicht in sie hineinkamen. In den ersten Tagen entwickelte sich die Jagd auf dem Sumpf, später auf dem offenen See. Ich hatte mir auf einem Erdhaufen ein kleines Zelt errichtet, in dem ich zwölf bis vierzehn Stunden am Tage verbrachte. Ljowa stand unter den Bäumen unmittelbar im Schilf.

Wegen des schlechten Wetters und des uneinheitlichen Zuges des Gefflügels war die eigentliche Jagd mißglückt. Wir brachten nur etwa vierzig Enten und einige Gänse heim. Und doch hat mir die Reise große Freude gemacht, die wesentlich darin bestand, sich vorübergehend in einen Barbaren zu verwandeln: in freier Luft zu schlafen, unter offenem Himmel Hammelfleisch zu essen, das in einem Eimer zubereitet wurde, sich nicht zu waschen, nicht auszuziehen, also auch nicht anzuziehen, vom Pferd in den Fluß zu fallen (das einzige Mal, wo ich mich in der brennenden Mittagssonne ausziehen mußte), fast vierundzwanzig Stunden auf schmalen Brettern zwischen Wasser und Schilf zuzubringen – das alles erlebt man nicht oft. Ich kehrte heim ohne jegliche Erkältung. Zu Hause erkältete ich mich am nächsten Tage und mußte eine Woche lange liegen ...

Es kommen von Rakowski ausländische Zeitungen aus Moskau und aus Astrachan. Heute habe ich einen Brief von ihm erhalten. Er bearbeitet für das Marx-Engels-Institut das Thema über den Saint-Simonismus. Außerdem schreibt er seine Erinnerungen. Wer nur ein wenig Rakowskis Leben kennt, kann sich leicht vorstellen, welch großes Interesse seine Memoiren finden werden.“

Am 24. Mai schrieb ich an Preobraschenski, der schon damals hin und her zu schwanken begann: „Ich habe Ihre Thesen erhalten und habe an niemand ein Wort darüber geschrieben. Vorgestern bekam ich aus Kalpaschowo folgendes Telegramm: ‚Lehnen entschieden Vorschläge und Kritik Preobraschenskis ab. Antworten Sie sofort. Smilga, Alskij, Netschajew.‘ Gestern erhielt ich ein Telegramm aus Ustj-Kulom: ‚Halten die Vorschläge Preobraschenskis für falsch. Beloborodow. Walentinow.‘ Von Rakowski kam gestern ein Brief, in dem er Sie nicht lobt und seine Stellung zum Stalinschen ‚linken Kurs‘ mit der englischen Formel: ‚Warte und wache‘ kundtut. Gestern erhielt ich auch von Beloborodow und Walentinow einen Brief. Beide sind sehr beunruhigt durch irgendein Schreiben Radeks nach Moskau, voller saueren Stimmungen. Sie sind ganz außer sich. Geben sie den Inhalt des Radekschen Briefes richtig wieder, dann bin ich mit ihnen durchaus einverstanden. Ich empfehle Unnachgiebigkeit gegen die lmpressionisten.

Seit meiner Rückkehr von der Jagd, das heißt seit Ende März, sitze ich ununterbrochen zu Hause, bei einem Buch oder mit der Feder in der Hand, etwa von sieben oder acht Uhr morgens bis zehn Uhr abends. Ich beabsichtige, eine Pause von einigen Tagen zumachen: Jagd gibt es jetzt nicht, deshalb wollen wir mit Natalja Iwanowna und Serjoscha (der jetzt hier ist) auf den Fluß Ili zum Fischfang fahren. Sie erhalten rechtzeitig darüber Bericht.

Ist Ihnen klar, was in Frankreich bei den Wahlen geschehen ist? Ich verstehe vorläufig nichts. Die Prawda hat nicht einmal die Gesamtzahl der Stimmen im Vergleich zu den vorigen Wahlen gebracht, so daß man nicht übersehen kann, ob die kommunistischen Stimmen zugenommen oder abgenommen haben. Ich habe vor, diese Frage nach ausländischen Zeitungen zu studieren, und werde Ihnen dann schreiben.“

Am 26. Mai schrieb ich Michail Okudschawa, einem alten georgischen Bolschewiki: „Soweit der neue Kurs Stalins sich Aufgaben stellt, bemüht sich Stalin zweifellos, an unsere Position heranzukommen. In der Politik entscheidet aber nicht nur was, sondern auch wer und wie. Die grundlegenden Kämpfe, die das Schicksal der Revolution entscheiden werden, stehen noch bevor ...

Wir waren stets der Ansicht und haben das oft wiederholt, daß der Prozeß des politischen Abstiegs der regierenden Fraktion nicht unbedingt eine ununterbrochen fallende Kurve darstellen müsse. Auch das Abgleiten vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern in einer Klassengesellschaft mit tiefen inneren Reibungen. Die große Masse der Partei ist nicht einheitlich, bildet vielmehr in ihrem überwiegenden Teil einen politischen Rohstoff. Unter dem Druck der Klassenstöße von rechts und von links sind Diiferenzierungsprozesse in ihr unvermeidlich. Die Zuspitzungen in der letzten Periode der Parteigeschichte, deren Folgen wir tragen, sind nur die Ouvertüre zur weiteren Entwicklung der Ereignisse. Wie die Opernouvertüre die musikalischen Themen der ganzen Oper vorwegnimmt und ihnen gedrängten Ausdruck gibt, so hat auch unsere politische ‚Ouvertüre‘ jene Melodien vorweggenommen, die sich in der Zukunft in vollem Umfange entwickeln müssen, das heißt, unter Beteiligung der Trompeten, der Kontrabässe, der Trommeln und anderer Instrumente der ernsten Klassenmusik. Die Entwicklung der Freignisse bestätigt restlos, daß wir nicht nur gegen die Drehscheiben und Wetterfahnen von der Art Sinowjews, Kamenjews, Pjatakows und so weiter recht hatten, sondern auch gegen die teuren Freunde von ‚links‘, die ultralinken Wirrköpfe, insofern sie dazu neigen, die Ouvertüre für die Oper zu halten, das heißt annehmen, die grundlegenden Prozesse in der Partei und im Staate seien bereits abgeschlossen und der Thermidor, über den sie zum erstenmal durch uns gehört haben, sei eine vollzogene Tatsache... Nicht nervös werden, nicht unnütz an sich und an anderen herumzerren, lernen, abwarten, scharf beobachten und nicht zulassen, daß unsere politische Linie durch persönliche Verärgerung verrostet – nur so darf unser Verhalten sein.“

Am 9. Juni starb in Moskau meine Tochter und ergebene Gesinnungsgenossin Nina. Sie zählte sechsundzwanzig Jahre. Ihr Mann war kurz vor meiner Verbannung verhaftet worden. Sie setzte die Arbeit der Opposition fort, bis sie bettlägerig wurde. Sie hatte die galoppierende Schwindsucht bekommen, die sie in wenigen Wochen wegraffte. Ihr Brief an mich aus dem Krankenhaus brauchte dreiundsiebzig Tage und kam erst nach ihrem Tode an.

Rakowski schickte mir am 16. Juni ein Telegramm: „Gestern Deine Nachricht von der schweren Krankheit Ninas bekommen. Habe an Alexandra Georgjewna (Rakowskis Frau) nach Moskau telegraphiert. Heute aus den Zeitungen erfahren, daß Nina ihren revolutionären Lebensweg beendet hat. Bin ganz mit Dir, teurer Freund. Es ist sehr schwer zu tragen, daß uns eine unüberwindliche Entfernung trennt. Umarme Dich viele Male und herzlich. Christian.“

Nach vierzehn Tagen traf Rakowskis Brief ein:

„Lieber Freund, ich trauere schmerzlich um Ninotschka, um Dich, um Euch alle. Du trägst schon lange das schwere Kreuz des revolutionären Marxisten, aber jetzt hat Dich zum erstenmal der grenzenlose Schmerz des Vaters getroffen. Ich bin mit ganzem Herzen bei Dir und traurig, daß ich von Dir so fern bin ...

Serjoscha hat Dir sicherlich erzählt, welche sinnlosen Maßnahmen man gegen Deine Freunde anwandte, nach dem törichten Benehmen gegen Dich in Moskau. Ich kam eine halbe Stunde nach Deiner Abreise in Deine Wohnung. Im Besuchszimmer war eine Gruppe Freunde, meist Frauen, darunter Muralow. ‚Wer ist hier der Bürger Rakowski?‘ ertönte eine Stimme. ‚Der bin ich, Sie wünschen?‘ ‚Folgen Sie mir!‘ Durch einen Korridor wurde ich in ein kleines Zimmer geführt. Vor der Tür befahl man mir ‚Hände hoch‘. Nachdem meine Taschen abgetastet waren, wurde ich verhaftet. Man entließ mich erst um fünf Uhr. Muralow wurde der gleichen Prozedur unterworfen und bis spät in die Nacht festgehalten ... ‚Sie haben völlig den Kopf verloren‘, dachte ich und empfand nicht Zorn, sondern Scham über die eigenen Genossen.“

Am 14 Juli schrieb ich Rakowski:

„Lieber Christian Georgjewitsch, ich habe Dir wie auch den anderen Freunden schon eine Ewigkeit nicht geschrieben und mich auf das Versenden von etlichem Material beschränkt. Nach der Rückkehr vom Ili, wo ich die Nachricht von dem schweren Zustande Ninas erhielt, sind wir gleich in ein Sommerhaus übergesiedelt. Nach einigen Tagen kam die Nachricht von Ninas Tod ... Du verstehst was das bedeutete ... Aber man durfte keine Zeit verlieren, man mußte unsere Dokumente zum sechsten Kongreß der Kommunistischen Internationale fertigstellen. Das war nicht leicht. Und doch hat gerade die Notwendigkeit, die Arbeit um jeden Preis zu vollenden, wie ein Senfpflaster gewirkt und uns geholfen, über die ersten schweren Wochen hinwegzukommen.

Wir hatten im Juli Sinuschka (die ältere Tochter) hier erwartet. Aber wir mußten leider auf ihren Besuch verzichten. Guetier bestand darauf, daß sie sofort in eine Lungenheilstätte gehe. Sie ist schon lange lungenkrank, und die Pflege Ninuschkas während der drei Monate, da Ninuschka von den Ärzten schon aufgegeben war, hat ihre Gesundheit vollends untergraben ...

Jetzt über die Arbeiten zum Kongreß. Ich beschloß, mit der Kritik des Programmentwurfs zu beginnen in Verbindung mit allen Fragen, die uns zu der offiziellen Leitung in Gegensatz stellen. Im Resultat entstand ein Buch von elf Druckbogen. Im allgemeinen habe ich zusammengefaßt, was die Frucht unserer kollektiven Arbeit im letzten Jahrfünft ist, seit Lenin von der Führung der Partei zurücktrat und die Herrschaft des leichtfertigen Epigonentums begann, das anfangs von den Zinsen des alten Kapitals lebte, bald aber daranging, auch das Kapital zu vergeuden.

Wegen des Appells an den Kongreß habe ich einige Dutzend Briefe und Telegramme bekommen. Die Auszählung der Stimmen ist noch nicht beendet. Jedenfalls haben sich von etwa hundert Stimmen nur drei für die Thesen Preobraschenskis ausgesprochen ...

Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Block Stalins und Bucharins mit Rykow auf dem Kongreß noch den Schein einer Einheit wahren wird, um den letzten hoffnungslosen Versuch zu machen, über uns den ‚endgültigen‘ Grabstein zu setzen. Aber gerade diese neue Bemühung und ihre unvermeidliche Erfolglosigkeit können den Prozeß der Differenzierung innerhalb des Blocks sehr beschleunigen; denn am nächsten Tage nach dem Kongreß wird die Frage noch unverhüllter wieder dastehen: ‚Was weiter?‘ Welche Antwort wird darauf gegeben werden? Nachdem die revolutionäre Situation in Deutschland im Jahre 1923 verpaßt worden war, hatten wir als Kompensation im Jahre 1924-25 eine sehr heftige ultralinke Schwenkung. Der ultralinke Kurs Sinowjews ging mit rechtem Sauerteig hoch: der Kampf gegen die Anhänger der Industrialisierung, der Roman mit Raditsch, La Follette, die Bauerninternationale, die Kuomintang und so weiter. Als der ultralinke Kurs überall Fiasko erlitten hatte, ging mit dem gleichen rechten Sauerteig der rechte Kurs hoch. Eine erweiterte Wiederholung desselben Vorgangs bei einer neuen Etappe ist keinesfalls ausgeschlossen, das heißt eine neue ultralinke Periode, die sich auf die gleichen opportunistischen Voraussetzungen stützt. Die verborgenen ökonomischen Kräfte können jedoch diese ultralinke Richtung wiederum plötzlich abbrechen und ihr eine entschiedene Wendung nach rechts geben.“

Im August schrieb ich an eine Reihe von Genossen:

„Ihr habt sicherlich beachtet, daß unsere Zeitungen den Widerhall, den die Ereignisse innerhalb unserer Partei in der europäischen und amerikanischen Presse geweckt haben, nicht abdrucken. Schon das allein berechtigt zu dem Glauben, daß der Widerhall den Bedürfnissen des ‚neuen Kurses‘ nicht entspricht. Jetzt besitze ich darüber nicht nur Vermutungen, sondern ein klares Zeugnis der Presse selbst. Genosse Andrejtschin schickt mir eine Seite, die aus der Februarnummer der amerikanischen Zeitschrift Nation herausgerissen ist. Kurz unsere letzten Ereignisse schildernd, schreibt dies angesehenste linksdemokratische Organ:

„Das alles schiebt die Frage in den Vordergrund: wer vertritt die Durchführung des bolschewistischen Programms in Rußland, und wer ist die unzweifelhafte Reaktion auf sie? Der amerikanische Leser hat immer geglaubt, daß Lenin und Trotzki dieselbe Sache verträten, die konservative Presse und die Staatsmänner waren zu der gleichen Schlußfolgerung gekommen. So hat die New-Yorker Times am Neujahrstag den Hauptquell ihrer Freude darin gefunden, daß Trotzki aus der kommunistischen Partei glücklich ausgeschlossen ist, wobei das Blatt offen erklärt, daß ‚die vertriebene Opposition für eine Verewigung jener Ideen und Zustände war, die Rußland von der westlichen Zivilisation abgeschnitten hatten‘. Die Mehrzahl der großen europäischen Zeitungen hat im gleichen Sinne geschrieben. Sir Austen Chamberlain hat Zeitungsberkhten zufolge, während der Genfer Konferenz gesagt, England könne aus dem einfachen Grunde in keine Verhandlungen mit Rußland treten, weil ‚Trotzki noch nicht an die Wand gestellt ist‘. Chamberlain muß sich jetzt mit der Vertreibung Trotzkis zufrieden geben ... Jedenfalls sind die Vertreter der Reaktion in Europa sich darüber einig, daß Trotzki und nicht Stalin ihr gefährlicher kommunistischer Feind ist.“ Das sagt genug, nicht wahr? ...“

Ein wenig Statistisches aus den Aufzeichnungen meines Sohnes. Von April bis Oktober 1928 schickten wir aus Alma-Ata etwa 800 politische Briefe ab, darunter eine Reihe größerer Arbeiten, und etwa 550 Telegramme. Erhalten haben wir etwa 1.000 Briefe, größere und kleinere, und etwa 700 Telegramme, in der Mehrzahl kollektive. Hierbei handelte es sich hauptsächlich um die Korrespondenzen innerhalb des Verbannungsgebietes; aber aus der Verbannung sickerten sie auch ins Land durch. In den günstigsten Momenten erreichte uns höchstens die Hälfte der Briefe, die man uns schrieb. Außerdem bekamen wir aus Moskau etwa acht- bis neunmal durch besondere Boten geheime Post, das heißt illegales Material und Briefe, ebenso viele Male schickten wir solche Post auch nach Moskau. Die Geheimpost unterrichtete uns über alles und gab uns die Möglichkeit, zu den wichtigsten Ereignissen Stellung zu nehmen, wenn auch oft mit bedeutender Verspätung.

Meine Gesundheit verschlechterte sich zum Herbst. Das Gerücht davon drang nach Moskau. Die Arbeiter fingen an, in Versammlungen Fragen zu stellen. Die offiziellen Berichterstatter fanden nichts Besseres, als meinen Zustand in den rosigsten Farben zu schildern.

Am 20. September schickte meine Frau an den damaligen Sekretär der Moskauer Organisation, Uglanow, folgendes Telegramm:

„In Ihrer Rede im Plenum des Moskauer Komitees sprechen Sie von der angeblichen Krankheit meines Mannes L.D. Trotzki. Angesichts der Besorgnis und der Proteste unzähliger Genossen erklären Sie entrüstet: ‚Zu solchen Maßnahmen greift man!‘ Nach Ihren Worten greifen zu unwürdigen Maßnahmen also nicht jene, die Lenins Mitarbeiter verschicken und den Krankheiten ausliefern, sondern jene, die dagegen protestieren. Aus welchem Grunde und mit welchem Recht teilen Sie der Partei, den Werktätigen und der ganzen Welt mit, die Nachricht von der Krankheit L.D.s sei falsch? Sie betrügen damit die Partei. Im Archiv des Zentralkomitees befinden sich Berichte unserer besten Ärzte über den Gesundheitszustand L.D.s. Mehr als einmal hat ein Konsilium von Ärzten auf Anregung von Wladimir Iljitsch, der wegen der Gesundheit L.D.s in größter Sorge war, getagt. Diese Konsilien haben auch nach dem Tode Wladimir Iljitschs festgestellt, daß L.D. an Kolitis und an einem durch schlechten Stoffwechsel verursachten Podagra leide. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, daß L.D. sich im Mai 1926 in Berlin ohne Erfolg einer Operation unterziehen mußte, um das Fieber, unter dem er seit mehreren Jahren leidet, loszuwerden. Kolitis und Podagra sind Krankheiten, die nicht ausgeheilt werden können, besonders nicht in Alma-Ata. Im Gegenteil, sie schreiten mit den Jahren fort. Nur durch eine entsprechende Lebensweise und eine richtige Kur ist das Fortschreiten der Krankheit zu verhindern. Weder das eine noch das andere ist in Alma-Ata möglich. Über Regime und Kur, die notwendig sind, können Sie bei dem Volkskommissar für Gesundheitswesen, Semaschko, Auskunft einholen, der wiederholt an den Konsilien teilnahm, die auf Anordnung Wladimir Iljitschs stattfanden. Hier ist L.D. außerdem das Opfer der Malaria geworden, die ihrerseits sowohl die Kolitis wie das Podagra beeinflußt und periodisch starke Kopfschmerzen hervorruft. Es gibt Wochen und Monate, wo der Zustand günstiger ist, denen dann Wochen und Monate schweren Leidens folgen. So ist die wirkliche Lage der Dinge. Ihr habt L.D. nach Artikel 56 als ‚Konterrevolutionär‘ verschickt. Man könnte es begreifen, wenn Ihr erklären würdet, Euch interessiere die Gesundheit L.D.s nicht. Ihr wäret in diesem Falle nur konsequent – von jener vernichtenden Konsequenz, die, wenn ihr kein Halt geboten wird, nicht nur die besten Revolutionäre, sondern auch die Partei und die Revolution selbst ins Grab bringen muß. Aber unter dem Druck der Arbeiter fehlt Euch wohl der Mut zu dieser Konsequenz. Anstatt zu sagen, Trotzkis Krankheit sei für Euch nur vorteilhaft, denn sie werde ihn am Denken und Schreiben hindern, leugnet Ihr die Krankheit einfach ab. Ebenso verfahren in ihren Reden Kalinin, Molotow und andere. Die Tatsache, daß Ihr in dieser Frage den Massen Antwort zu geben gezwungen seid und Euch so würdelos herauszureden sucht, beweist, daß die Arbeiterklasse die politische Lüge, die Ihr über Trotzki verbreitet, nicht glaubt. Sie wird auch Eure Unwahrheit über den Gesundheitszustand L.D.s nicht glauben.

N.J. Sedowa-Trotzkaja


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008