Leo Trotzki

 

Wohin geht Frankreich?

(2. Teil)

 

VII
Schlussfolgerung

Kräfteverhältnis

„Abwarten“, „Gewähren lassen“. „Zeit gewinnen“, das sind die Losungen der Reformisten, Pazifisten, Gewerkschaftler und Stalinisten. Diese Politik zehrt von dem Gedanken, die Zeit arbeite für uns. Stimmt das? Nein, grundverkehrt ist es! Wenn wir in einer vorrevolutionären Situation keine revolutionäre Politik führen, dann arbeitet die Zeit gegen uns.

Trotz des Lobgehudels zu Ehren der Einheitsfront hat sich das Kräfteverhältnis im letzten Jahr zuungunsten des Proletariats geändert. Warum? Marceau Pivert hat darauf in seinem Artikel „Eins hält das andere“ (Populaire vom 18. März 1935) eine richtige Antwort gegeben. Hinter den Kulissen vom Finanzkapital gelenkt, betreiben alle Kräfte und Teile der Reaktion eine nicht nachlassende Offensivpolitik, erobern eine Position nach der anderen, bauen sie aus und rücken weiter vor (Industrie, Landwirtschaft. Unterricht, Presse, Justiz, Armee). Auf Seiten des Proletariats nichts als Phrasen über die 0ffensive, tatsächlich aber nicht einmal eine Defensive. Die Positionen werden nicht ausgebaut, sondern sie sind kampflos abgetreten oder werden bald abgetreten.

Das politische Kräfteverhältnis wird nicht allein durch objektive Faktoren bestimmt (Rolle in der Produktion, Zahl usw.). sondern auch durch subjektive: Bewusstsein der Kraft ist der wichtigste Bestandteil wirklicher Kraft. Während der Faschismus von Tag zu Tag das Selbstvertrauen der deklassierten Kleinbürger hebt, schwächen die leitenden Gruppen der Einheitsfront den Willen des Proletariats. Die Pazifisten, Schüler Buddhas und Gandhis, und nicht Marx’ und Lenins, ergehen sich in Predigten gegen Gewalt, Bewaffnung, physischen Kampf. Die Stalinisten predigen im Grunde dasselbe, nur dass sie sich auf die „nichtrevolutionäre Situation“ berufen. Zwischen Faschisten und Pazifisten aller Schattierungen herrscht Arbeitsteilung: die einen verstärken das Lager der Reaktion. die anderen schwächen das Lager der Revolution. Das ist die unverhüllte Wahrheit!

 

Heißt das, die Lage sei hoffnungslos? ... Oh nein! ...

Zwei Faktoren wirken gegen die Reformisten und Stalinisten. Erstens: die Beispiele Deutschlands, Österreichs und Spaniens sind noch frisch vor aller Augen, die Arbeitermassen sind auf der Hut, die Reformisten und Stalinisten aus der Fassung. Zweitens: die Marxisten haben rechtzeitig verstanden, vor der proletarischen Avantgarde die Probleme der Revolution aufzurollen.

Die Bolschewiki-Leninisten sind weit davon entfernt, ihre zahlenmäßige Stärke zu übertreiben. Doch die Kraft ihrer Losungen kommt daher, dass sie die Entwicklungslogik der gegenwärtigen vorrevolutionären Lage ausdrücken. Die Ereignisse jeder Etappe bestätigen ihre Analyse und Kritik. Der linke Flügel der Sozialistischen Partei wächst. In der Kommunistischen Partei ist die Kritik wie bisher erstickt. Aber das Wachsen des revolutionären Flügels in der SFIO wird unweigerlich eine Bresche in die mörderische bürokratische Disziplin der Stalinisten schlagen: die Revolutionäre beider Parteien werden einander die Hand reichen zu gemeinsamer Arbeit.

Unser Wahlspruch bleibt wie immer: aussprechen was ist. Das ist der größte Dienst, den man heute der Sache der Revolution erweisen kann. Die Kraft des Proletariats ist noch unverausgabt. Das Kleinbürgertum hat eine Wahl noch nicht getroffen. Viel Zeit ist verloren, aber die letzten Fristen sind noch nicht abgelaufen.

Der Sieg ist möglich! Mehr: der Sieg ist gewiss – soweit ein Sieg im Voraus überhaupt gewiss sein kann – unter einer einzigen Bedingung: es gilt den Sieg zu wollen, zu erstreben, es gilt alle Hindernisse niederzureißen, es gilt den Feind niederzuwerfen und ihm das Knie auf die Brust zu setzen.

Genossen, Freunde, Brüder und Schwestern! Die Bolschewiki-Leninisten rufen euch zum Kampf und zum Sieg!

 


Zuletzt aktualiziert am 15.10.2003